Vom Zettelkasten bis zur KI − ein kulturwissenschaftlicher Blick auf die Wissensgeschichte
Medien sind mehr als nur Radio und Fernsehen. Der Kultur- und Medienwissenschaftler Markus Krajewski untersucht, welche kulturellen Artefakte Menschen wie Maschinen auf der Suche nach Wissen hinterlassen. Bei der Themenwahl lässt er dem Zufall viel Raum und ist vielleicht gerade deswegen dem Zeitgeist oft voraus.
Es war eine seltsame Begebenheit im Berlin der 90-er Jahre: Ein Arbeiter warf den soeben ausrangierten Zettelkasten einer Bibliothek in den Rinnstein. Die hölzernen Schubladen landeten direkt vor den Füssen von Markus Krajewski − der an der Humboldt-Universität zu Berlin soeben eine Magisterarbeit über die Geschichte von Zettelkästen begonnen hatte.
Heute stehen diese Kästen noch gefüllt mit den originalen Kärtchen im Regal seines Büros im Seminar für Medienwissenschaft der Universität Basel. Täglich erinnern sie Markus Krajewski, dort seit 2014 Professor für Mediengeschichte und -theorie, an den Beginn seiner Forschungskarriere.
Neue Perspektiven der Medienwissenschaft
In Berlin gehörte Krajewski zum Kreis um Friedrich Kittler, der als einer der einflussreichsten Geisteswissenschaftler des 20. Jahrhunderts gilt. In dessen Büro gaben sich damals Berühmtheiten wie der Kryptographie-Experte David Kahn oder der Filmemacher Harun Farocki die Klinke in die Hand. «In dieser Runde haben wir damals schon über Fragen nachgedacht, die erst viel später gesellschaftlich relevant wurden, zum Beispiel über den Zusammenhang von Markov-Ketten und Künstlicher Intelligenz. Das waren wilde Jahre», erinnert sich Krajewski.
Die damaligen Diskussionen prägen bis heute seinen akademischen Ansatz, der einen erweiterten Medienbegriff verfolgt: So führte er etwa die Frage, warum die Schaltstellen des Internets «Server» genannt werden, historisch zurück auf den Kammerdiener. Dieser muss nicht nur Informationen für seine Herrschaft beschaffen, sondern ihm wurden immer wieder auch Lese- und Schreibaufgaben übertragen. Klassische Kulturtechniken also, wie sie noch immer von Assistenten erledigt werden, nur dass diese eben inzwischen digital sind.
Während seiner Laufbahn nahm Krajewski ein breites Spektrum solcher Kulturtechniken unter die Lupe, nicht zuletzt auch das Programmieren und seine kulturellen Effekte. Nach dem Abschluss in Berlin folgte die Doktorarbeit und eine Assistenzprofessur für Mediengeschichte der Wissenschaften an der Bauhaus-Universität Weimar. Nach einigen weiteren Stationen, darunter einem Forschungsaufenthalt an der Harvard University, führte ihn sein Weg schliesslich in die Kulturstadt Basel, wo er sich mit seiner Familie am richtigen Ort fühlt.
Ideen mit Passion verfolgen
Zu Krajewskis Bibliografie gehören unter anderem ein Buch über die verkachelten Fassaden der deutschen Nachkriegsarchitektur, über die Hyäne als politisches Tier, eine Anleitung zum Schreiben einer universitären Abschlussarbeit (unter Einsatz von LSD – Lesen, Schreiben, Denken) oder eine Anthologie zur Geschichte der Glühbirne. Das breite Spektrum an Forschungsthemen ist gewollt: «Es geht darum, sich gelenkten Zufällen auszusetzen. Sich von Dingen inspirieren zu lassen und seiner forschenden Neugier zu folgen.» Wenn ihn dann ein Thema gepackt hat, geht er diesem intensiv über längere Zeit nach. Auf der Suche nach Material durchsucht er unter anderem literarische Quellen, Archive und Zeitungen.
Eine solche ergebnisoffene Herangehensweise möchte Krajewski auch seinen Studierenden und Doktorierenden ans Herz legen. Zusammen mit seinen Kolleginnen am Seminar für Medienwissenschaft will er eine möglichst breite und vernetzte Denkweise vermitteln.
Auch deswegen beruhen viele von Krajewskis Projekten auf interdisziplinären Kooperationen. Für sein neuestes, im Jahr 2024 veröffentlichtes Buch tat er sich mit einer Spitzenköchin und einem Fotografen zusammen: Auf einer Reise nach Neapel stellte das Trio ein sogenanntes barockes Schauessen nach. Ausgehend von den Rezepten und Fotografien denkt Krajewski über die Historie der Zutaten oder Kochtechniken nach und bringt sie mit kulturtheoretischen Denkfiguren erzählerisch und unterhaltsam in Verbindung.
Im Rückblick zeigt sich Relevanz
Für Krajewski selbst gelegentlich überraschend: Oft stossen die von ihm verfolgten, eher als Beiträge zur Grundlagenforschung konzipierten Projekte im Laufe der Zeit auf grosse Resonanz. Bestes Beispiel ist die Geschichte der Lebensdauer von Glühbirnen. Hierfür zeichnete Krajewski anhand von Firmenarchiven nach, wie ein Hersteller-Kartell 1924 die Lebensdauer der Lampen künstlich auf 1000 Stunden herabschraubte und damit die sogenannte geplante Obsoleszenz etablierte. Das von der EU ausgesprochene Glühbirnen-Verbot machte das Thema dann später plötzlich interessant. Noch heute bekommt er regelmässig Interviewanfragen dazu.
Sein derzeitiges Buchprojekt entwickelt eine Vorgeschichte der Künstlichen Intelligenz, um − im Vergleich mit den historischen Etappen dieser Technologie − die Gegenwart besser einordnen und verstehen zu lernen. Darin spannt er einen Bogen von dem Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, der seine Ideen und Wissensbausteine in einem speziell gefertigten Zettelschrank verwalten wollte, bis hin zu den grossen Sprachmodellen der heutigen generativen KI. Die Idee dafür trägt Krajewski schon lange mit sich herum. Und jetzt ist das Thema hochaktuell und wird wohl die Zukunft der Menschheit mitbestimmen. Wie schon so oft war Krajewski auch mit dieser Idee dem Mainstream etwas voraus.