Unisonar S6|EP4: Sexualität und Politik

Wie entstand unser heutiges Verständnis von Sexualität – und wie hängt es mit Kolonialismus, Kapitalismus und globaler Moderne zusammen? Der Ethnologe Prof. Dr. George Paul Meiu spricht im Podcast der Universität Basel über historische Ursprünge, gesellschaftliche Zuschreibungen und die politische Macht von Sexualität.
Ein Diskurs über Sexualität entstand erst mit dem Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert, erklärt der Ethnologe George Paul Meiu, und zwar im Zuge von Industrialisierung, Kapitalismus und Moderne. Sexualität sei heute allgegenwärtig – in Werbung, Politik und Religion – und werde als innerster Kern des Selbst verstanden. Doch diese Vorstellung sei historisch und kulturell spezifisch: «Die Annahme, dass das, was wir sexuell tun, definiert, wer wir im Innersten sind, ist eine sehr spezifische Art von Subjektverständnis.»
Diese westliche Vorstellung wurde laut Meiu durch Kolonialismus und Christianisierung weltweit verbreitet. «Die Gewalt des Kolonialismus ging mit der Verbreitung bestimmter Geschlechter- und Sexualitätsordnungen einher», so Meiu. Dabei sei das Ziel gewesen, nicht nur religiöse Rituale zu ersetzen, sondern tiefgreifend in das Alltagsleben einzugreifen – bis hin zur Kindererziehung und Beziehungsgestaltung. Doch diese Reformprojekte seien nie vollständig – sie mischten sich immer mit lokalen Traditionen.
Zwischen Begriffsdefinition und kulturellem Kontext
Begriffe wie Sex, Gender und Sexualität sollten laut Meiu nicht absolut verstanden werden: «Jede Definition ist historisch bedingt», sagt Meiu. Dennoch sei eine funktionale Unterscheidung notwendig: Sex beziehe sich auf biologische Merkmale oder den Akt selbst, Sexualität auf Begehren und Identität, Gender auf die soziale Praxis von Geschlecht. Wichtig sei jedoch, diese Begriffe immer im jeweiligen kulturellen Kontext zu verstehen – und nicht als universelle Wahrheiten.
Anhand der Performance des kenianischen Künstlers Neo zeigt Meiu, wie Genderfluidität Irritation und gleichzeitig Reflexion auslösen kann. «Was Menschen als erstes fragten, war: Mit wem schläft diese Person?», so Meiu. Die Performance entlarvt eine weit verbreitete Logik: Sexualität gilt als tiefste Wahrheit des Geschlechts. Doch diese Irritation habe ein doppeltes Potenzial: Sie könne Gewalt auslösen – oder Lernprozesse anstossen.
Sexualität als Kapital – und als Gefahr
Ein weiteres Beispiel liefert Meiu mit seiner Forschung zu den Samburu in Kenia, deren traditionelle Männlichkeit zum touristischen Fetisch wurde. «Die ethnische Sexualität wurde zur Marke – und zugleich zur tödlichen Bedrohung», erzählt der Ethnologe von seiner Feldforschung.
Samburu-Männer, die durch Beziehungen zu Touristinnen zu Wohlstand gelangten, wurden als Bedrohung wahrgenommen und Opfer von Gewalt. «Die Logik der Gewalt war: Wenn der Reichtum im Körper liegt, muss dieser zerstört werden.» Auch hier zeige sich: Sexualität ist nicht nur ein persönliches, sondern zutiefst politisches Thema.
Meiu ruft zu mehr Geduld im gesellschaftlichen Wandel auf: Veränderung geschehe nicht in grossen Revolutionen, sondern in kleinen Momenten des Alltags. Statt auf eindeutige Definitionen zu beharren, solle man Vielfalt aushalten und neue Formen des Zusammenlebens erproben. «Wenn wir aufmerksam bleiben für kleine Unterschiede, können wir lernen, anders zu leben – und neue Welten gestalten.»