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Neuanfang. (02/2025)

Wendepunkt in der Lebensmitte.

Text: Barbara Spycher

Eine Harley Davidson und eine Affäre mit einer Jüngeren: Das klingt nach Midlife Crisis par excellence. Was als «typisch männlich» gilt, ist ursprünglich ein feministisches Konzept.

Ein schwarzen Doc Martens Schuh mit Verzierung in Form von Rosen
(Bild: AdobeStock, Hintergrund KI-generiert)

«Ist es das jetzt gewesen?» «So hatte ich mir mein Leben nicht vorgestellt: Soll das jetzt bis an mein Lebensende so weitergehen?» «Was will ich eigentlich noch?» Solche Gedanken kennen viele Menschen in der Lebensmitte. Sie hinterfragen bisherige Entscheidungen. Einige beenden ihre Beziehung, wagen nochmal einen beruflichen Neustart oder wenden sich einem neuen Hobby zu.

In unseren Köpfen geistern Klischees zu dieser «Midlife Crisis» herum – die allesamt Männer betreffen. Der Mann in den Vierzigern, der sich eine Harley anschafft, um sich wieder lebendig und frei zu fühlen. Oder der Familienvater, der «nur schnell Zigaretten holen geht», um mit seiner neuen, deutlich jüngeren Freundin im roten Cabrio davonzubrausen.

Umso erstaunter war die Wissenschaftshistorikerin Susanne Schmidt, als sie entdeckte, dass es sich bei der Krise in der Lebensmitte ursprünglich um ein feministisches Konzept gehandelt hatte – formuliert in dem im Jahr 1976 erschienenen Bestseller Passages der New Yorker Journalistin Gail Sheehy.

«Ich war fasziniert, dass das stark männlich geprägte Phänomen der Midlife-Krise seinen Ursprung in einem Buch hat, das Geschlechterrollen kritisch hinterfragt und sich für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung starkmacht und damit eine feministische Perspektive einnimmt», erzählt Susanne Schmidt. Sie machte sich auf Spurensuche, um die Geschichte der Midlife Crisis zu ergründen – diese veröffentlichte sie kürzlich im gleichnamigen Buch.

Die Männer kapern das Konzept

Ausgangspunkt von Susanne Schmidts Wissenschaftsgeschichte ist das erwähnte Buch von Gail Sheehy. Diese hatte 120 Interviews mit Frauen und Männern zwischen 17 und 50 Jahren geführt. Dabei stellte sie fest, dass die jüngeren Frauen und Männer in den 70er-Jahren enthusiastisch versuchten, in die geschlechtsspezifischen Rollenbilder hineinzupassen, bis sich dann zwischen 35 und 45 Jahren eine grosse Unzufriedenheit breitmachte.

Die Frauen waren unzufrieden mit der Rolle als Hausfrau und Mutter, die Männer mit der des Ernährers. Und beide wagten einen Neuanfang: Frauen holten ihre Universitätsabschlüsse nach, machten einen Karrierewechsel oder stiegen überhaupt erst ins Berufsleben ein. Männer hingegen entschleunigten beruflich und wandten sich vermehrt der Familie und dem Emotionalen zu. Für Gail Sheehy war klar: Es sei völlig normal, dass es zu dieser Unzufriedenheit und der Midlife Crisis komme. Denn diese engen, geschlechtsspezifischen Rollenbilder seien in sich problematisch, weil nur ein Teil des Selbst ausgelebt werden könne.

«Besonders ist, dass das Konzept der Midlife-Krise nicht etwa aus der Wissenschaft kam, sondern den umgekehrten Weg von den Bestsellerlisten in die akademischen Studien nahm», erzählt Susanne Schmidt. Renommierte Psychologen übernahmen den populär gewordenen Begriff, besetzten ihn in Studien und Fachbüchern aber neu, als rein männliches Phänomen. Sie propagierten die Midlife-Krise als zweite Adoleszenz für den Mann: Für ihn sei es ein normaler Entwicklungsschritt, dass er in der Lebensmitte seine Freiheit und seine sexuelle Lust wieder entdecke. Die Frau habe ihrem Mann das zu ermöglichen – ohne sich selbst zu verändern. «Dadurch ist dieses antifeministische Playboy-Klischee entstanden», sagt Susanne Schmidt.

Der Tiefpunkt verschiebt sich

In den letzten Jahrzehnten sind weitere Modelle und Kontroversen über die Midlife-Krise hinzugekommen. Lange bestimmte die U-Kurven-Theorie den Diskurs. Glücksökonomen hatten nämlich festgestellt, dass die Zufriedenheit bei den meisten Menschen zwischen 40 und 50 ihren Tiefpunkt erreicht – was dem unteren Bogen des «U» entspricht. Danach steigt das Wohlbefinden wieder an. Doch in neusten Studien zeigt sich plötzlich ein anderes Bild, weiss Susanne Schmidt. Am unglücklichsten sind aktuell die Unter-25-Jährigen. Deshalb ist die klassische U-Form zusammengebrochen: Der Tiefpunkt der Zufriedenheit liegt nicht mehr in der Lebensmitte, sondern im jungen Erwachsenenalter.

«Diese neusten Untersuchungen verdeutlichen: Das Konzept der Midlife-Krise ist keine zeitlose, psychologische Konstante, sondern immer abhängig von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, vom Geschlecht, von der Kultur, von der sozialen Schicht.» US-Studien aus den 90ern hätten beispielsweise gezeigt, dass nur die privilegiertesten zehn Prozent sich einen Neuanfang in der Lebensmitte überhaupt erlauben können. «In meiner Analyse der letzten Jahrzehnte habe ich festgestellt, wie sehr der Diskurs über die Midlife-Krise von der jeweiligen Perspektive geprägt ist und wie sehr es um die Definition von Geschlechterrollen geht», fasst Schmidt zusammen. «Vielleicht hilft es beim Innehalten und Sortieren in der Lebensmitte, diese Vogelperspektive mitzudenken?»

Neuer Blick auf weibliche Identität

Eine aktuelle Diskussion über die Lebensmitte fokussiert auf die Menopause – und folglich auf die Frauen. Neu entwickelt sich ein positiver Diskurs, stark geprägt von der deutschen Gynäkologin Sheila de Liz, welche die Menopause in ihrem Bestseller Woman on Fire aus der Ecke der pathologischen Mühsal holt und sie als Zeit des Aufbruchs und der neuen Möglichkeiten propagiert.

Die Wissenschaftshistorikerin Susanne Schmidt erachtet den feministischen Diskurs über die Menopause und die Lebensmitte als «Geschwister-Konzepte», das eine aus biologischer, das andere aus psychologischer Perspektive. «In beiden Konzepten geht es um das Ende der Reproduktivität und die Frage: Was bedeutet das für die weibliche Identität?» Die Erzählungen würden dort stark und feministisch, wo sie deutlich machen: «Es gibt eine Selbsterfüllung für Frauen jenseits der Mutterrolle. Weibliche Identität kann viel mehr und ganz anderes bedeuten.» Wie diese aussieht, das darf jede Frau selbst definieren – in der Lebensmitte, und auch schon davor.


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