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Leben in Stadt und Land (01/2018)

«Beloved» von Toni Morrison: Die Geister der Vergangenheit.

Text: Andrea Bieler

Mein Buch: Die Theologin Andrea Bieler empfiehlt «Beloved» von Toni Morrison.

Prof. Dr. Andrea Bieler. (Bild: Andreas Zimmermann)
Prof. Dr. Andrea Bieler. (Bild: Andreas Zimmermann)

Ich habe zwölf Jahre meines Lebens in den USA als Theologin gearbeitet. Ein bedrängendes Thema war in jener Zeit die Frage nach der Bedeutung der Sklaverei in der Gegenwart und wie diese gewaltvolle Geschichte der Menschenverachtung immer noch Bildungseinrichtungen, soziale Beziehungen, ökonomische Verhältnisse und Religionen prägt. Toni Morrisons «Beloved» (1987, deutsch «Menschenkind») ist ein literarischer Schlüsseltext zur Frage, wie die Geister der Vergangenheit die Gegenwart heimsuchen.

Der Roman beginnt in der Bluestone Road Nr. 124 in Cincinnati kurz nach dem Bürgerkrieg. Sethe, die hier mit ihrer Tochter Denver lebt, ist eine ehemalige Sklavin. Das Haus war einst das pulsierende Zentrum der schwarzen Community in der Nachbarschaft und ist nun zu einem Geisterhaus geworden. Hier spukt der Geist von Sethes erstgeborener Tochter, vertreibt alles Lebendige und lässt auch Sethe wie eine Tote leben. Als ein alter Bekannter, Paul D., zu Sethe zurückkehrt, bricht sich der Strom der Erinnerungen Bahn. Sethe war 20 Jahre zuvor als hochschwangere Frau von der Plantage weggelaufen, auf der sie als Sklavin arbeiten musste.

Auf der Flucht verliert sie ihren Mann und weitere Gefährten; sie gebiert mithilfe eines jungen, weissen Mädchens ihre Tochter Denver. Als ihr alter Master sie aufspürt, um sich «seinen Besitz zurückzuholen», entschliesst sie sich, ihre Kinder zu töten, um sie vor einem Leben in der Sklaverei zu bewahren.

Zunächst gelingt es Paul D., den Geist zu vertreiben, und für einen Augenblick kehrt Ruhe ein. Doch später treffen die beiden auf ein Mädchen, das sich als Menschenkind vorstellt, den Namen, den Sethe auf den Grabstein ihrer Tochter hatte meisseln lassen. Menschenkind kennt ihre eigene Geschichte nicht. Es beginnt ein Leben zu viert, voller Machtkämpfe, Verrat und der Suche nach Nähe, ein Leben, das von dem Versuch zu verstehen besessen ist und doch nie zum Ziel kommt: «Alles, was tot ist und wieder zum Leben erwacht, tut weh.» Der eindrückliche Roman kreist um die Frage, was es kostet, sich unheilbaren Wunden zuzuwenden und sich an Albträume zu erinnern, die sich nicht verflüchtigen wollen – wenn abgespaltene Splitter einer traumatischen Geschichte wieder lebendig werden und sich neu zusammenfügen.

Andrea Bieler ist seit 2017 Professorin für Praktische Theologie an der Universität Basel. Sie forscht und lehrt über Vulnerabilität in religiöser Deutung, kollektive Traumatisierung und Erinnerungspraxis, Empathie und Konfliktbearbeitung, Migration und Xenophobie sowie Konstruktionen von Krankheit, Gesundheit und Altern.

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