Hilfe im technologischen Niemandsland.
Text: Santina Russo
Neuronale Implantate verbessern das Leben vieler Menschen – bis die Hersteller ihre Technik nicht mehr weiterführen. Ein Medizinethiker der Universität Basel untersucht das bisher unterschätzte Phänomen des «Neuroabandonment».
Sie können Migränepatienten die Schmerzen nehmen, Blinde wieder Lichtflecken sehen oder Menschen mit gelähmten Beinen wieder gehen lassen: neuronale Implantate. Diese Geräte interagieren direkt mit dem Nervensystem und können neurologisch bedingte Erkrankungen und Beeinträchtigungen lindern, indem sie bestimmte elektrische Impulse aussenden. Schliesslich funktioniert unser Nervensystem über elektrische Signale und lässt sich darum auf diesem Weg justieren. Mittels Elektroden, die im Gehirn implantiert werden, lassen sich beispielsweise Symptome der Parkinson-Krankheit behandeln oder Epilepsieanfälle vorhersagen. Mit dem Rückenmark verbundene Stimulatoren lindern chronische Schmerzen. Und Gehirn-Computer-Schnittstellen können Patientinnen und Patienten motorische Funktionen oder die Fähigkeit zu sprechen teilweise zurückgeben.
Nur: Die Herstellerfirmen solcher Implantate können in finanzielle und betriebliche Schwierigkeiten geraten und schlimmstenfalls in Konkurs gehen. Weil sie ihre Investoren verlieren oder weil sie schlecht wirtschaften; oder weil ein Implantat nicht funktioniert wie gewünscht. Bei Start-ups geschieht das manchmal bereits in der Phase der klinischen Studien, bevor ein Implantat für den Markt zugelassen wird. Doch es verschwinden auch etablierte Unternehmen, deren Geräte bereits bei Hunderten Menschen im Einsatz sind. Dann werden die Implantate abgeschaltet oder technisch nicht mehr unterstützt. Was dann?
Auf sich allein gestellt
«Werden Menschen mit neuronalen Implantaten allein gelassen, kann das sehr traumatisierend sein», sagt George Kouvas, Forscher am Institut für Biomedizinische Ethik der Universität Basel. Er hat kürzlich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen einen Artikel im Fachmagazin «Nature Medicine» veröffentlicht, der auf dieses Problem und seine Folgen aufmerksam macht und ihm erstmals einen Namen gibt.
Das Team spricht vom sogenannten Neuroabandonment – ins Deutsche lässt sich das etwas holprig mit Neuro-Verlassenwerden übersetzen. «Weil neuronale Implantate mit dem Nervensystem verbunden sind und häufig als Teil des Körpers wahrgenommen werden, beeinflussen sie die Menschen auch auf einer emotionalen Ebene», sagt Kouvas. «Viel stärker als andere Therapien werden sie zu einem Teil der Identität der Patientinnen und Patienten.»
Umso schlimmer ist es für die Betroffenen, wenn die Implantate wieder entfernt werden, obschon diese ihre Lebensqualität stark verbessert haben. Oder wenn die Geräte abgeschaltet oder nicht mehr unterstützt werden. Beispielsweise bei der US-amerikanischen Firma Autonomic Technologies: Sie entwickelte ein an sich vielversprechendes Implantat gegen Clusterkopfschmerzen. Zunächst expandierte die Firma, doch Ende 2019 ging ihr das Geld aus.
Auswirkungen auf die Psyche
Ein weiteres US-Unternehmen namens NeuroControl vertrieb ein Implantat, das 250 Personen mit Tetraplegie eingesetzt wurde und ihnen half, mit den Händen wieder Dinge zu greifen. Obwohl die Nutzenden damit glücklich waren, gab NeuroControl den Betrieb wegen finanzieller Schwierigkeiten auf – und liess die Patientinnen und Patienten ohne technischen Support zurück. Das war 2001 – ein früher dokumentierter Fall von Neuroabandonment.
Fortan hatten mehr als 700 Menschen mit Implantat keinen Zugang mehr zur Software für dessen Steuerung. Einer davon ist Markus Möllmann Bohle. Sein Implantat macht die Stärke seiner Schmerzanfälle erträglich, wie der 60-Jährige 2022 in einem Beitrag im Magazin «Nature» erzählte. Da er Elektroingenieur ist, konnte er sein eigenes Gerät bisher mit viel Aufwand selbst am Leben halten. Doch bei den allermeisten anderen Trägerinnen und Trägern funktioniert es längst nicht mehr und sie leiden erneut unter den starken Schmerzen.
Ähnlich lief es später bei der Firma Nuvectra. Deren Implantat wurde ganzen 3000 Personen eingesetzt und linderte mittels Rückenmarkstimulation ihre chronischen Schmerzen. Doch auch Nuvectra musste Konkurs anmelden und seine Patienten im Ungewissen zurücklassen.
Das sind nur einige Beispiele – es gibt mehr. Das Forschungsteam um George Kouvas hat sie zusammengetragen und analysiert. So haben die Forschenden die drängendsten Probleme identifiziert und dargelegt, dass Untersuchungen des Phänomens dringend nötig sind, um die richtigen Massnahmen zu ergreifen. Schon jetzt haben sie aber einige Forderungen formuliert. So sollte das Risiko des Neuroabandonments in den Einverständniserklärungen, welche die Studienteilnehmenden und Patientinnen unterschreiben, ausdrücklich erwähnt werden.
Von Beginn weg sollten die Hersteller einen klaren Ausstiegsplan aus Sicht der Implantatempfänger erarbeiten und auch kommunizieren. «Das wird noch nicht konsequent gemacht», betont Kouvas. Über die gesamte Branche hinweg würden zudem gemeinsame technische Standards helfen. Damit wäre es für Unternehmen einfacher, dort weiterzumachen, wo andere gescheitert sind. Weitere Massnahmen auf politischer Ebene könnten Firmen verpflichten, besser für die Empfänger ihrer Implantate zu schauen.
Das Potenzial der Implantate ausnutzen
Was Kouvas wichtig ist: «Es geht mir nicht darum, Angst oder Skepsis zu verbreiten, im Gegenteil.» Der ausgebildete Elektroingenieur hat selbst an der Entwicklung neuronaler Implantate mitgearbeitet und will sicherstellen, dass sie möglichst vielen Menschen helfen. «Darum ist es wichtig, dass wir auch die ethische Seite untersuchen und ein regulatorisches Umfeld schaffen, das die aktuellen Probleme auffängt.» Als Nächstes plant Kouvas eine systematische Untersuchung des Phänomens. Doch bereits jetzt ist klar: «Das Neuroabandonment und seine Folgen wurden bisher unterschätzt.» Mit seiner Arbeit will Kouvas das Bewusstsein dafür schärfen und eine Grundlage für konkrete und umsetzbare Gegenmassnahmen schaffen.
Quellen erschienen in Nature Medicine (2025), doi: 10.1038/s41591-025-03772-x
Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (November 2025).
