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Im Fokus: Julia Wartmann forscht zwischen Hoffnungslosigkeit und Aufbruch

Julia Wartmann sitzt am Schreibtisch in ihrer Wohnung in Zürich.
Die «Galabi» ist ein Gewand aus leichtem Baumwollstoff für Männer, hauptsächlich von Arabern getragen. Julia Wartmann liess ihn sich als Erinnerungsstück an ihre Feldforschung in Rakka schneidern. Der Schneider habe nicht mit der Wimper gezuckt und sofort Änderungen für das Frauenmodell vorgeschlagen: ein weicherer Kragen und einen Schlitz am Bein. (Foto: Raisa Durandi/Universität Basel)

In ihrer Dissertation widmet sich Julia Wartmann den Bestrebungen zur Geschlechtergleichheit im Nordosten Syriens. Ihre Feldforschung ermöglichte ihr Einblicke in eine vom Krieg geprägte Gesellschaft, die eine neue Form des Zusammenlebens etablieren will.

11. Juli 2022

Julia Wartmann sitzt am Schreibtisch in ihrer Wohnung in Zürich.
Die «Galabi» ist ein Gewand aus leichtem Baumwollstoff für Männer, hauptsächlich von Arabern getragen. Julia Wartmann liess ihn sich als Erinnerungsstück an ihre Feldforschung in Rakka schneidern. Der Schneider habe nicht mit der Wimper gezuckt und sofort Änderungen für das Frauenmodell vorgeschlagen: ein weicherer Kragen und einen Schlitz am Bein. (Foto: Raisa Durandi/Universität Basel)

Mit Demokratischem Konföderalismus hatte sich Julia Wartmann bereits während ihres Studiums in Kulturanthropologie und Arabisch an der Universität Zürich und der Internationalen Beziehungen des Nahen Ostens in Edinburgh beschäftigt. Dieses Konzept Abdullah Öcalans für die kurdischen Gebiete beeindruckte sie. Im Rahmen eines Praktikums bei der Wochenzeitung WoZ 2018 wollte sie mit einer Reportage herausfinden, wie es den Menschen in den Kurdengebieten in Nordostsyrien geht und was sie beschäftigt, nachdem dort seit 2011 Bürgerkrieg herrscht. «Das schien den Verantwortlichen am Ende aber zu heikel und ich durfte nicht dorthin reisen», erinnert sie sich. Aus der Vorrecherche entwickelte sie dann die Fragestellung für ihre Dissertation an der Universität Basel und der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace, die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird.

Sie untersucht, wie die Reformen zu Geschlechtergleichheit in Nordostsyrien nach der Revolution 2011 umgesetzt werden. Geschlechtergleichheit ist ein Hauptpfeiler der Ideologie der Rätedemokratie, die seit 2012 im kurdischen Gebiet aufgebaut wird und die sich auch in den arabischen Gebieten um Rakka ausbreitet. Das verabschiedete Frauenrecht stellt Männer und Frauen gesellschaftlich und politisch gleich, im Parlament, in Gremien und Institutionen gibt es eine 50-Prozent-Frauenquote und jedes Amt wird sowohl von einem Mann als auch von einer Frau besetzt im Sinne einer Co-Präsident*innenschaft. Damit soll eine möglichst breite Partizipation erreicht werden.

«Mich interessiert, wie eine solche Idee in einer radikalen, also nicht liberalen, Form der Demokratie umgesetzt wird: Welche neuen Regeln und Pflichten entstehen? Wer wird davon begünstigt und wer nicht? Welche neuen Machtkonstrukte entstehen? Und was bedeutet das für die Leute?», fasst Julia Wartmann ihre Forschungsfragen zusammen. Es seien sicher nicht die einfachsten Umstände für neue Modelle – und gesellschaftlicher Wandel brauche Zeit. «Aber das Vakuum des Bürgerkriegs bot die Gelegenheit für das Modell, das es im kurdischen Teil der Südtürkei schon länger gibt», befindet Julia Wartmann.

Was ist Freiheit?

Um Antworten auf ihre Fragen zu finden, setzte sie in der Feldforschung auf teilnehmende Beobachtungen und Interviews. Dafür verbrachte sie 2021 fünf Monate in Amude, einer kleinen Stadt im Nordosten des Landes, etwa 30 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Dort nahm sie zum Beispiel an Schlichtungsverfahren teil, die meist auf Kurdisch stattfinden. Weil sie die Sprache nicht spricht, nahm sie die Dienste einer Übersetzerin in Anspruch, die mit der Zeit zu einer guten Freundin wurde. Ausserdem beobachtete sie, wie die Leute dasitzen oder wer mit wem spricht: «Auch das sind Erkenntnisse für meine Forschung.»  

Julia Wartmann sitzt auf dem Balkon ihrer Wohnung in Zürich.
Diktiergerät, Stift und Papier waren Julia Wartmanns Begleiter in der Feldforschung. (Foto: Raisa Durandi/Universität Basel)

In den Interviews zeigte sich: Gegen Geschlechtergleichheit und das Frauengesetz, die zu mehr Gleichheit führen, ist eigentlich niemand – weder Männer noch Frauen. Ziel sei es allerdings keineswegs, westliche Gesellschaftsmodelle zu importieren. «Sie wollen vielmehr etwas Eigenes aufbauen, das ihnen zu mehr Freiheit in ihrem Verständnis verhilft.» Obschon es unterschiedliche Auffassungen gibt, was Freiheit ist.

Begeistert ist Julia Wartmann vor allem von ihren Begegnungen mit «beeindruckenden und smarten Frauen». Wie diese ihre eigene Situation reflektieren und analysieren, beeindruckte sie immer wieder. «Aber nicht, dass man meint, das hätte mich überrascht, dass sie das können», betont sie. «Doch es war eindrücklich, wie klar und sehr präzis sie sagen, was sie wollen und wo sie Probleme sehen.» Das sieht man beim Thema Kopftuch: Eine Gesprächspartnerin formulierte, es gehe nicht darum, den Schleier vom Kopf zu ziehen, sondern vom Gehirn – «take the cover off your brain, not your head».

Privilegien für die Forschung nutzen

Julia Wartmann ist in Zürich aufgewachsen, war aber auch immer wieder für längere Zeit im Ausland. Woher ihre Faszination für die Sprache und die Kultur des Nahen Ostens kommt, weiss sie selber nicht genau. Als Anfangspunkt nennt sie eine Reise mit der Familie nach Ägypten, als sie elf war. «Und während eines Aufenthalts in einem Flüchtlingslager in Ramallah im Sommer 2016 wurde mir bewusst, dass ich als westliche Frau, die arabisch spricht, die Möglichkeit für einen einzigartigen Einblick habe», beschreibt sie den Weg zu ihrer jetzigen Forschung. Sie darf auf der einen Seite die Männer in Männercafés begleiten, auf der anderen Seite hat sie Zugang zu den frauendominierten Sphären wie etwa die Küche, die den Männern verwehrt bleiben. «Ich hatte die Chance, sehr gute, persönliche Einblicke zu bekommen und Freundschaften zu schliessen.»

Doch so spannend und erkenntnisreich die Zeit vor Ort war, sie war auch belastend. «Ich bin froh, dass ich nicht mehr dort bin. Es war schon sehr streng und emotional», resümiert Wartmann. Sie selber sei sehr individualistisch und fühle sich oft unwohl in einer Gesellschaft, «in der man nicht einfach sagen kann, was man will».

Mehr als neutrale Beobachtung

Aber: «Das ganze Thema interessiert mich wie am ersten Tag.» Nachdem die Feldforschung abgeschlossen ist, steht für sie nun der Schreibprozess der Doktorarbeit an. «Dank meiner Feldforschung kann ich eine Geschichte erzählen. Das ist etwas anderes, als wenn ich mir theoretisches Wissen aus Büchern angeeignet hätte, für mich selber als auch für das Publikum.»

Sie glaubt zwar nicht, dass sie mit ihrer Arbeit die Welt verändern wird, aber: «Durch den Austausch in der Feldforschung passiert immer etwas. Sie löst bei mir selber etwas aus und bei jenen, mit denen ich mich unterhalten habe.» Die Situation der Frauen habe sich durch das System tatsächlich verbessert. Sie können mehr teilhaben an der Politik und am öffentlichen Leben. «Dennoch gilt es genau hinzuschauen und, wer von den neuen Strukturen profitiert und wer weiterhin ausgeschlossen bleibt.»


Zur Person

Julia Wartmann unterrichtete jahrelang geflüchtete Jugendliche in Informatik, Kunst und Deutsch und hat das Telefon Gegen Gewalt (TGG) mitgegründet – eine Hotline für von Gewalt betroffene Frauen, die jeweils am Wochenende 24 Stunden pro Tag erreichbar ist. In der Freizeit unternimmt sie gerne Ausflüge mit Freund*innen und geht in die Badi. Die 32-Jährige wohnt mit ihrem Partner in Zürich. Im Juli kommt das erste gemeinsame Kind zur Welt.

In künftiger Forschung will sie untersuchen, wie sich die Situation der Frauen in anderen Gebieten Syriens, wo es kein Frauengesetz im Sinne der Autonomiebehörde gibt, von jener der Frauen im Nordosten unterscheidet.

Im Fokus: die Sommerserie der Universität Basel

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