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Sprache besteht nicht nur aus Worten

Durch Videoaufnahmen von alltäglichen Situationen will die Linguistin Lorenza Mondada Sprache in allen Dimensionen verstehen. Denn wir kommunizieren nicht nur mit dem Mund, sondern mit dem ganzen Körper und allen Sinnen.

Lorenza Mondada entwickelte eine Transkriptionsmethode zur Auswertung von Videoaufnahmen sozialer Interaktionen, die jedes relevante Wort, Geste und Bewegung der beteiligten Personen dokumentiert (Bild: © Christian Flierl, Universität Basel).
Lorenza Mondada entwickelte eine Transkriptionsmethode zur Auswertung von Videoaufnahmen sozialer Interaktionen, die jedes relevante Wort, Geste und Bewegung der beteiligten Personen dokumentiert (Bild: © Christian Flierl, Universität Basel).

Ein Mann kauft am Kiosk ein Päckchen Zigaretten. Zwei Touristinnen kommen in Lugano miteinander ins Gespräch. Ein Verkäufer bietet einer Kundin ein Stück Käse zum Kosten an. Für uns sind das unbedeutende Alltagsbegegnungen. Nicht so für Lorenza Mondada − die Basler Linguistik-Professorin filmt diese Begebenheiten und analysiert sie bis ins letzte Detail: «Solche sozialen Interaktionen sind für mich die Linse, durch die ich Sprache und Körper betrachte.»

Im Tessin aufgewachsen, absolvierte sie ihr Linguistik-Studium an der Universität Freiburg und promovierte anschliessend an der Universität Lausanne. In den nächsten zwanzig Jahren führte sie ihre Karriere dann einmal rund um die Welt. Sie lehrte und forschte zunächst in der Schweiz und Frankreich, später in Finnland, Schweden, USA, Japan und vielen anderen Ländern mehr. Seit 2012 ist sie Professorin für Allgemeine Linguistik und Französische Linguistik an der Universität Basel.

Doch richtig sesshaft ist Mondada eigentlich immer noch nicht – sie ist ständig auf Achse, um ihre Ideen zu verbreiten, internationale Kollaborationen aufzugleisen und neue Inspirationen zu bekommen. «Eigentlich fühle ich mich überall auf der ganzen Welt zuhause», sagt sie.

Fundamentale Erkenntnisse aus einfachen Situationen

Schon von Anfang an verfolgte Mondada bei ihrer Forschung einen interdisziplinären Ansatz, der die Linguistik mit Soziologie, Anthropologie und Kommunikationswissenschaften verknüpft. Denn für sie geht Sprache weit über blosse Worte hinaus. «Wir bewegen auch die Hände, setzen den ganzen Körper ein und laufen herum.»

Um diese multimodalen Aspekte zu aufzudecken, begann sie Videoaufnahmen von sozialen Interaktionen im privaten oder beruflichen Kontext zu machen: etwa beim Einkauf am Kiosk, bei der Zusammenarbeit von Chirurgen im Operationssaal oder bei Bürgerbeteiligung auf basisdemokratischen politischen Versammlungen.

Für die Auswertung der Videos entwickelte sie eine Transkriptionsmethode, die mittlerweile weltweit zur Anwendung kommt und Analysen sozialer Interaktionen miteinander vergleichbar macht. Die Methode dokumentiert – auf die Sekunde genau – jedes relevante Wort, Geste, Bewegung der beteiligten Personen. «Wenn man dann mal Hunderte von Leuten in Videoaufnahmen betrachtet, ist das natürlich ziemlich viel Arbeit», so Mondada.

Doch der Aufwand lohnt sich: Mit ihrer akribischen Forschung und ihrem Auge für kleinste Details konnte Mondada belegen, dass es eine gemeinsame Basis gibt, mit der Menschen ihr Zusammenleben regeln können. «Dieses gegenseitige Verständnis, das wir Intersubjektivität nennen, ist das Fundament unseres Miteinanders, unserer Soziabilität und schlussendlich unserer Demokratie.»

Wie gesellschaftsrelevant diese Forschung ist, zeigte sich auch während der Coronapandemie. Mondada nutzte sie als einmalige Chance und begann mit ihren Doktorierenden sofort Videoaufnahmen im öffentlichen Raum zu machen – um zu dokumentieren, wie Menschen sich an den Ausnahmezustand anpassten, zum Beispiel bei der Begrüssung oder beim Bezahlen. Während andere Forschungsgruppen die Arbeit niederlegten, veröffentlichte das Team von Mondada schon sechs Monate nach Beginn der Pandemie neue Ergebnisse. Dass ihre Gruppe dieses Projekt in kürzester Zeit erfolgreich durchgezogen hat und dass sie ihren Doktorierenden diese Erfahrung mit auf den Weg geben kann, freut sie besonders – denn die Nachwuchsförderung liegt ihr sehr am Herzen.

Lorenza Mondada verbindet mit dem interdisziplinären Ansatz ihrer Forschung die Linguistik mit Soziologie, Anthropologie und Kommunikationswissenschaften (Bild: © Christian Flierl, Universität Basel).
Lorenza Mondada verbindet mit dem interdisziplinären Ansatz ihrer Forschung die Linguistik mit Soziologie, Anthropologie und Kommunikationswissenschaften (Bild: © Christian Flierl, Universität Basel).

Auch die Sinne spielen eine Rolle

Inzwischen geht Mondada noch einen Schritt weiter, ihre Forschung wird immer weiter und komplexer: Sie bezieht nun den Umgang mit Objekten und Sinneswahrnehmungen wie Tasten und Schmecken in ihre Analysen mit ein. Für ein soeben abgeschlossenes Projekt, finanziert vom Schweizerischen Nationalfonds, filmte sie beispielsweise in 15 europäischen Gourmet-Käseläden, wie Verkaufspersonal und Kundschaft miteinander interagieren – beim Verkosten der Käsesorten, beim Sprechen über den Geschmack. Dabei stiess sie auf grundlegende Muster, welche die Intersubjektivität und interaktionelle Organisation der Sinneswahrnehmung kennzeichnen. Ein neues SNF-Projekt erweitert dies auf den sensorischen Zugang zum Körper anderer Menschen in der sozialen Interaktion.

Um Objekte ganz anderer Art geht es bei einem anderen neuen Projekt in Brasilien. Dort begleitet Mondada ein anthropologisches Team, das anhand von Knochen Opfer der früheren Diktatur identifiziert. «Es ist für mich unglaublich faszinierend mitzuerleben, wie das Team diskutiert und dabei die Knochen anschaut und berührt. Knochen sind nicht einfach nur Gegenstände, sondern menschliche Überreste – und das bedeutet, dass sie auf eine ganz bestimmte Art und Weise berührt und untersucht werden.»

Wie die Studie in Brasilien zeigt, lässt es sich Mondada trotz ihrer vielen Verpflichtungen nicht nehmen, immer wieder die Videokamera in die Hand zu nehmen und selbst Feldforschung zu betreiben, auch wenn das viel Vorbereitungszeit und Einfühlungsvermögen erfordert. Denn um die Erlaubnis zum Filmen und Beobachten zu bekommen, muss sie zunächst Vertrauen aufbauen. Dabei hilft es, dass sie sich in ziemlich vielen Sprachen gut verständigen kann. «Und bei der Käsestudie hat es sicher nicht geschadet, dass ich gerne esse und mich mit Käse gut auskenne.»

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