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Angst. (01/2022)

Was ist Geschlecht, Frau Maihofer?

Text: Andrea Maihofer

Heute ist gesellschaftlich akzeptiert, dass es mehr Facetten gibt als männlich oder weiblich. Wie definiert sich, welchem Geschlecht ein Individuum angehört? Antworten aus der Geschlechterforschung.

Andrea Maihofer
Prof. Dr. Andrea Maihofer

Im Rahmen der Geschlechterforschung haben sich inzwischen zwei unterschiedliche Schwerpunkte herausgebildet: eine vor allem geistes- und sozialwissenschaftlich sowie eine naturwissenschaftlich orientierte Geschlechterforschung. Beide interagieren kontinuierlich und gehen stellenweise ineinander über.

Aus der Perspektive Ersterer, auf der im Folgenden der Schwerpunkt liegt, ist Geschlecht ein vor allem gesellschaftlich-kulturelles Phänomen. Der Fokus liegt hier insbesondere auf dem jeweils historisch vorherrschenden Verständnis von Geschlecht (Geschlechtsidentität, Geschlechtskörper, Sexualität) und auf den damit einhergehenden Geschlechternormen. Dabei zeigt sich sowohl deren stetiger Wandel als auch, wie verschieden die mit diesen Normen verbundene gesellschaftliche Arbeitsteilung und geschlechtliche Hierarchisierung sind.

Zudem zeigen sich im Laufe der Zeit deutliche Unterschiede in der sozialen Wirkmächtigkeit von Geschlecht. So war in der Frühen Neuzeit die Standeszugehörigkeit bedeutsamer als die Differenzierung des Geschlechts. Die jeweils herrschenden Vorstellungen von Geschlecht, Geschlechterdifferenzen und gesellschaftlicher beziehungsweise familialer Arbeitsteilung sind also keineswegs natürlich. Sie sind vielmehr gesellschaftlich-kulturell bedingt und daher nicht überhistorisch, sondern endlich.

Das heisst allerdings nicht, dass es keine natürlichen körperlichen Unterschiede gibt. Jedoch ist nicht der Penis selbst Ausdruck von Aktivität, männlicher Potenz und Überlegenheit, während ‹da› bei den Frauen ‹nichts ist› und die weiblichen Geschlechtsorgane vor allem passiv beziehungsweise rezeptiv sind. Es sind die Menschen, die die jeweiligen Körperteile bewerten und mit ihnen unterschiedliche normative Vorstellungen von Geschlecht und sexuellen Praxen verbinden.

Andrea Maihofer war ab 2001 Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Basel. Dies war die erste Professur ausschliesslich für Geschlechterforschung in der Schweiz, zudem verbunden mit dem Aufbau des Zentrums Gender Studies und der Einführung der Geschlechterforschung als eigenständiges Fach. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Geschlechtertheorie sowie Wandel und Persistenz von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen. 2020 wurde sie emeritiert. Einer ihrer derzeitigen Arbeitsschwerpunkte ist Männlichkeit und Rechtspopulismus, ausserdem schreibt sie an einem Buch zu Virginia Woolf.

Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

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