Was das Auge über das Herz verrät.
Text: Adrian Ritter
An den Blutgefässen in der Netzhaut lässt sich erkennen, wie gesund die Gefässe im ganzen Körper sind. Forschende der Universität Basel haben das Messverfahren massgeblich mitentwickelt. Jetzt ist es auf dem Weg in die klinische Anwendung.
Als der deutsche Mediziner Hermann von Helmholtz 1850 mit seinem selbstentwickelten Augenspiegel in das Auge eines Patienten blickte, war das eine Revolution. Erstmals liess sich damit der Augenhintergrund und insbesondere die Netzhaut (Retina) mit ihren Blutgefässen betrachten. Seither haben Generationen von Augenärztinnen und Augenärzten den Augenspiegel genutzt, um insbesondere Augenkrankheiten zu diagnostizieren.
Heute stehen wir am Beginn einer neuen Epoche, in der der Blick ins Auge standardmässig zur Diagnose ganz anderer Krankheiten genutzt werden kann. Bei der digitalen Aufnahme des Augenhintergrunds mit einer sogenannten Funduskamera beurteilen Henner Hanssen (links) und sein Team den Durchmesser der Gefässe in der Netzhaut. Denn wenn Henner Hanssen mit den modernen bildgebenden Methoden ins Auge blickt, dann bei Personen, die eben gerade nicht an Augenkrankheiten leiden. Der Professor für Präventive Sportmedizin und Systemphysiologie am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel sucht an den feinen Blutgefässen der Netzhaut nach Anzeichen für Herzkreislauferkrankungen.
Die Netzhaut verrät viel.
Hanssen ist weltweit einer der Pioniere der sogenannten retinalen Gefässanalyse. Dabei wird die Tatsache genutzt, dass die Netzhaut des Auges der einzige Ort im Körper ist, an dem die ansonsten nicht zugänglichen kleinsten Blutgefässe des Körpers ohne invasive Methoden sichtbar sind. Und die verraten viel über die Gefässgesundheit im ganzen Körper, wie die Forschung zeigt. «Sie haben sich als eigentliches Fenster zum Herzen und Gehirn entpuppt», sagt Hanssen.
Die Blutgefässe im Auge sind nämlich sehr ähnlich aufgebaut wie etwa diejenigen im Gehirn oder die Herzkranzgefässe. Deshalb lässt sich anhand der Netzhaut eine koronare Herzkrankheit diagnostizieren, also verengte Herzkranzgefässe. Veränderungen der feinen Blutgefässe der Netzhaut zeigen zudem frühzeitig das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder Diabetes und Bluthochdruck, was wiederum Risikofaktoren für Herzkreislaufkrankheiten sind.
Risiken schon bei Kindern erkennen.
Der Blick ins Auge geschieht dabei nicht mehr mit dem Augenspiegel wie im 19. Jahrhundert, sondern mit einem Hightech-Gerät, das verschiedene bildgebende Verfahren in sich vereint. Die Untersuchung dauert rund 20 Minuten. Dabei werden Fotos der Netzhaut gemacht, um beispielsweise den Durchmesser der Blutgefässe zu messen. Zudem testet das Gerät mit Lichtimpulsen, wie reaktionsfähig die Gefässe sind.
Das Verfahren funktioniert nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern, wie Christoph Hauser, Leiter des Gefässlabors in der Gruppe von Hanssen, erklärt: «Wir haben in den letzten Jahren rund 1500 Kinder untersucht. Dabei konnten wir anhand von kleinsten Gefässveränderungen unter anderem zeigen, dass sich das Risiko, dass ein Kind in den nächsten vier Jahren Bluthochdruck entwickelt, an der Netzhaut sehr gut erkennen lässt.»
Sind mit dem Blick ins Auge kardiovaskuläre Risiken oder Krankheiten erkennbar, stellt sich die Frage, inwiefern eine Therapie möglich ist. Als Sportmediziner sind dabei für Hanssen vor allem Bewegung und Sport interessant. Seine Forschungsgruppe konnte nachweisen, dass Bewegung als Therapie nicht nur den Blutdruck zu senken vermag, sondern sich bereits geschädigte Blutgefässe in der Netzhaut und kleine Blutgefässe im restlichen Körper auch wieder erholen können.
Möglichst früh ins Auge blicken.
Nach der erfolgreichen Forschungsphase steht das Testverfahren jetzt kurz davor, als Standarduntersuchung in den klinischen Alltag eingeführt zu werden. «Wir engagieren uns dafür, dass die retinale Gefässanalyse in die entsprechenden Richtlinien der internationalen Fachgesellschaften aufgenommen wird», sagt Henner Hanssen.
Profitieren sollen davon vor allem Personen mit einem tiefen bis mittleren Risiko für Herzkreislauferkrankungen. Also beispielsweise Menschen, die übergewichtig sind, Bluthochdruck haben oder an chronisch-entzündlichen Krankheiten wie Rheuma leiden, welche die Gefässe ebenfalls schädigen. «Der regelmässige Blick auf ihre Netzhaut könnte zeigen, wie gesund ihre Blutgefässe sind und inwiefern etwa eine Lebensstiländerung oder Medikamente ihre Gefässgesundheit verbessern», sagt Hanssen.
Seine Forschungsgruppe wies nach: Wird die bisher übliche Diagnostik – unter anderem mittels Elektrokardiogramm und Blutwerten – um die Gefässanalyse im Auge ergänzt, ergibt dies bei 20 Prozent der Untersuchten eine genauere Risikoeinschätzung betreffend Herzkreislauferkrankungen. «Die retinale Gefässanalyse als ergänzende Diagnostik kann damit Prävention und Therapie deutlich verbessern», sagt Hanssen.
Denkbar wäre die neuartige Diagnostik auch bei schulärztlichen Untersuchungen. «Dazu muss allerdings erst noch eine Kosten-Nutzen-Analyse gemacht werden», sagt Christoph Hauser. Kinder haben zwar in der Regel keine Herzkreislaufkrankheiten, aber durchaus Risikofaktoren wie Bluthochdruck oder etwa genetisch bedingt erhöhte Cholesterinwerte. Vor einem breiten Einsatz der neuartigen Diagnostik sollte diese noch kostengünstiger und einfacher werden, betont Hauser: «Künstliche Intelligenz wird in den kommenden Jahren sicher dazu beitragen, diese Ziele zu erreichen und die Auswertung zumindest teilweise zu automatisieren.»
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