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Rund um den Mund. (01/2025)

Unsere Klappe wird immer kleiner.

Text: Noëmi Kern

Lässt sich an der Kiefer- und Zahngrösse das Geschlecht ablesen? Und wohin führt die Evolution das menschliche Gebiss? Antworten aus der Anthropologie.

Collage von futuristisch gekleideten Personen mit Kieferknochen und Zähnen aus archäologischen Funden
(Collage: SUAN Conceptual Design GmbH)

Kommen bei einer archäologischen Grabung Knochenreste und Zähne zum Vorschein, hilft heute eine Analyse dieser alten DNA (aDNA), das Geschlecht des verstorbenen Lebewesens zu bestimmen. Früher hingegen schlossen Anthropologinnen und Anthropologen aus der Form bestimmter Knochen und der Grösse der Knochen und Zähne aufs biologische Geschlecht. Denn bei den Wirbeltieren sind die Männchen üblicherweise grösser als die Weibchen.

Dass das zu kurz greift, zeigt etwa der Fall der sogenannten Red Lady of Paviland. Das zierliche Skelett wurde beim Fund 1823 zunächst als weiblich klassifiziert. Daran kamen schon früh Zweifel auf, in den 2000er-Jahren bestätigten aDNA-Analysen den Verdacht endgültig: Die «Red Lady» war ein Mann.

Eine Studie unterstreicht, dass Vorsicht geboten ist, Grösse und Geschlecht miteinander zu verknüpfen. Forschende des Fachbereichs Integrative Prähistorische und Naturwissenschaftliche Archäologie (IPNA) der Universität Basel haben zusammen mit einem internationalen Team untersucht, wie die Zahn- und Kiefergrösse mit dem biologischen Geschlecht und der Körpergrösse zusammenhängen.

Ein grosser Mund macht noch keinen Mann.

Dazu haben die Forschenden Zahnabdrücke von 100 aus Mitteleuropa stammenden Studierenden – je 50 Männer und Frauen – an einer österreichischen Universität vermessen und statistisch ausgewertet. Die Forschenden gingen der Frage nach, in welchem Umfang sich Unterschiede in Zahn- und Kiefergrössen durch Körperhöhe und Geschlecht erklären lassen. Das Fazit: Nicht das Geschlecht ist primär entscheidend für die Zahn- und Kiefergrösse, sondern die Körpergrösse.

Findet man bei Ausgrabungen also einen grossen Kiefer, stammt dieser in der Regel von einem grösser gewachsenen Menschen. Daraus zu schliessen, er sei männlich gewesen, ist jedoch trügerisch. «Der einzige Knochen, dessen Dimensionen einigermassen zuverlässig mit dem biologischen Geschlecht in Verbindung stehen, ist der Beckenknochen», betont Werner Vach. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich IPNA und war in der Studie für die statistische Auswertung zuständig. Es sei das erste Mal, dass Forschende den allfälligen Zusammenhang zwischen Zahn- und Kiefergrösse und Geschlecht so systematisch untersuchten, sagt er.

Einige geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen den Abdrücken der männlichen und der weiblichen Studienteilnehmenden zeigten sich dennoch: Beim Kieferknochen ist die Korrelation zwischen den Abmessungen und dem Geschlecht grösser. «Er prägt die Gesichtsproportionen und die Geschlechtseffekte spielen eine grössere Rolle – nicht nur bezogen auf das biologische, sondern auch auf das soziale Geschlecht: Ein markantes Kinn klassifizieren wir als männlich, ein schmaleres wirkt weiblich», so Vach. Der Kiefer könnte bei forensischen Analysen also präzisere Hinweise auf das biologische Geschlecht liefern als die Zähne. Dort zeigten nur die Eckzähne grössere Unterschiede: Sie waren bei den Männern etwa 30 Prozent grösser als bei den Frauen, während der Unterschied bei den übrigen Zähnen bei etwa 10 Prozent lag.

Form follows function.

«In der Evolution gilt das Prinzip form follows function, die Form folgt der Funktion. Das Gebiss von fleischfressenden Lebewesen entwickelte sich entsprechend anders als jenes von Pflanzenfressern. Gleiches gilt für den Magen-Darm-Trakt», erklärt Kurt W. Alt. Er ist spezialisiert auf Dentalanthropologie, zieht also aus Analysen an Zähnen Rückschlüsse auf heutige und historische Populationen.

Wie sich der Mensch ernährt, hat sich im Laufe der Zeit stark gewandelt. Ein Wendepunkt war die Entdeckung des Feuers vor rund zwei Millionen Jahren: Damit liessen sich Lebensmittel erhitzen, durch den Garprozess wurden sie weicher. Auch die Sesshaftigkeit vor etwa 14 000 Jahren veränderte das Lebensmittelangebot. Nun ernährten sich die Menschen nicht mehr vorwiegend von der Jagd, von Beeren, Pilzen und Wurzeln, sondern sie betrieben Ackerbau und hielten Nutztiere.

Dichtestress im Kiefer.

Diese grossen kulturellen Veränderungen beeinflussten die Entwicklung der Zähne und des Kiefers. Diese wurden im Laufe der Evolution immer kleiner – allerdings nicht gleichzeitig. «Die Entwicklung des Kiefers und der Zähne ist nur bedingt aufeinander abgestimmt», sagt Kurt W. Alt.

Das führt auch zu Schwierigkeiten. Ein zeitgenössischer erwachsener Mensch hat 28 bis 32 Zähne, je nachdem, ob er die Weisheitszähne noch hat oder ob diese sich gar nicht erst entwickeln. Bei 70 bis 80 Prozent der Menschen fehlt dieser dritte Backenzahn von vornherein oder weil man ihn aufgrund von Beschwerden herausoperieren musste. «Weil der Kiefer im Laufe der Evolution kleiner wurde, haben oft gar nicht mehr alle Zähne Platz. Zweitens verkleinerte sich dadurch auch der Mundraum, was in der Gegenwart Schlafapnoe begünstigt», sagt der Dentalanthropologe.

An das heutige vorwiegend weiche Nahrungsangebot hat die Evolution unsere Zähne bisher nicht angepasst. Zähne sind in Form und Grösse darauf ausgelegt, sehr viel härtere Konsistenzen zu zermahlen, als sie oft müssen. «Mit der Ernährungsweise, die viel Convenience-Produkte enthält, müssen wir viel weniger kauen als unsere Vorfahren. Weniger Zähne würden also ausreichen», so Alt. Er erwartet daher, dass sich die Zähne und der Kiefer künftig weiter verkleinern und Zähne gegebenenfalls sogar gar nicht mehr angelegt werden, wie dies heute schon häufig bei den Weisheitszähnen der Fall ist. Dieser Trend lasse sich seit Generationen beobachten. Kurt W. Alt spricht von einer «Mikroevolution im Hintergrund».

Statistiker Werner Vach sieht es gelassen. «Veränderungen wie diese sind per se nichts Schlechtes. Vampirähnliche Reisszähne sind ja auch nicht sinnvoll, wenn wir sie nicht brauchen.»

Kurt W. Alt ist seit 2014 Gastprofessor im Fachbereich IPNA der Universität Basel. Er kommt ursprünglich aus der Zahnmedizin und studierte anschliessend Anthropologie, Ethnologie und Archäologie.

Werner Vach ist seit 2018 Lehrbeauftragter für Archäostatistik an der Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel. Seine Expertise liegt in der statistischen Auswertung archäologischer und anthropologischer Datensätze.

Quellen erschienen in Biology (2024), doi: 10.3390/biology13080569


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