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Krebs. (01/2023)

Zeit im Bild – Fotoalben im Wandel

Text: Noëmi Kern

Für ihre Dissertation beschäftigt sich Murielle Cornut mit dem Fotoalbum als Kulturtechnik.

Steckalbum in der Restauration
(Foto: Universität Basel, Christian Flierl)

Konkret nimmt Murielle Cornut die Sammlung der Basler Familie Kreis in den Blick, die zum Bestand des Fotoarchivs der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde gehört. Erhalten sind 93 Fotoalben aus dem Zeitraum 1880 bis 1980. An ihnen lässt sich nachvollziehen, wie sich die Fotografie und das Aufbewahren von Bildern im Laufe der Zeit verändert haben.

Fotoalben sind mehr als ein Buch für Fotografien. Beim Steckalbum werden die beschrifteten Rückseiten der als «Carte de Visite» bezeichneten Porträts nur in dem Moment sichtbar, wenn Fotorestauratorin Regula Anklin sie in ihrem Atelier aus dem Album löst. Das gewährt Einblick ins Netzwerk der Person, die das Album gestaltet hat.

Im Rahmen ihres Forschungsprojekts «Analoge und digitale Bildstrukturen in Fotoalben 1880–1980. Sehen, Sammeln, Tauschen, Erben.» schaut Murielle Cornut sie ebenso genau an wie die Vorderseite.

Blick durch die Lupe; Album mit Ledereinband
(Fotos: Universität Basel, Christian Flierl)

Der Blick durch die Lupe offenbart unter anderem, mit welcher Technik das Foto aufgenommen und auf welchem Material der Abzug gemacht wurde. Solche Details geben zum Beispiel Aufschluss über mögliche Datierungen und über den Umgang der Familie mit Fotografie. Auch verblichene Stellen und Retuschen lassen sich ausmachen. Dadurch werden die Bilder lebendig und geben mehr preis, als man auf den ersten Blick vermuten würde.

Private Fotoalben sind Alltagsgegenstände und somit Teil der Alltagsgeschichte. Die frühen Fotoalben der Sammlung Familie Kreis sind prachtvoll gefertigt, mit einem plastischen Ledereinband und einer Plakette mit den Initialen der Besitzerin oder des Besitzers. Diese Alben standen nicht im Regal, sondern lagen zum Beispiel auf einem Salontischchen zur Betrachtung.

Um die Kulturtechnik der Fotografie zu verstehen, ist diese Objektebene ebenso wichtig wie der Inhalt des Bildes. Wie schwer ist das Album? Welche Spuren der Nutzung sind erkennbar? Welche Körperhaltung nehmen wir ein beim Betrachten?

Digitalisierung der Alben im Digital Humanities Lab
(Foto: Universität Basel, Christian Flierl)

Alexandra Tschakert und Laura Citaku vom Digital Humanities Lab digitalisieren die Fotoalben. Egal, ob prunkvoll oder eher unscheinbar, sie sind alle gleichermassen ein Speicher von Wissen und Werten auf verschiedenen Ebenen: biografische Informationen, soziales Wissen über schicht- und geschlechterspezifische Verhaltensmuster, Erkenntnisse über die Geschichte der Fotoindustrie.

Durch die Digitalisierung entsteht aus dem dreidimensionalen Original eine zweidimensionale Reproduktion. Diese ist selber ein wichtiger Teil der Objekte, der zusätzliche Informationen offenlegt. Werden persönliche Alben online zugänglich, ändern sich zudem die Bedingungen ihrer Betrachtung massgeblich. Mit den analogen Originalen werden die wenigsten Menschen jemals in Kontakt kommen.

Auslage verschiedener Bilder; Murielle Cornut betrachtet ein Fotoalbum
(Fotos: Universität Basel, Christian Flierl)

Murielle Cornut begutachtet unter anderem, wie die Alben gestaltet sind und welche Anordnung der Bilder sie zulassen oder gar vorsehen. Dies verändert sich über die Zeit. Die Wissenschaftlerin schaut auch jene Bilder an, die es nicht ins Album geschafft haben, sondern lose hineingelegt wurden. Durch Vergleichen erkennt Cornut Menschen auf verschiedenen Bildern wieder oder sie findet Fotos, die auf anderen Aufnahmen im Hintergrund zu sehen sind. So erschliessen sich ihr Zusammenhänge und sie entdeckt Nebengeschichten.

Die Sammlung Kreis ist repräsentativ für die Geschichte privater Fotoalben des 20. Jahrhunderts. In den Steckalben finden sich vor allem Studiofotos, erhalten sind ausserdem Reise- und Familienalben in unterschiedlichen Formaten und Bindungen, Alben in A4 zu Alltagserlebnissen zwischen 1950 und 1965 sowie Plastikalben mit Zeigetaschen im Format 9 × 13 cm mit Farbfotos aus den 1980er-Jahren.

Studierende zeigen ihr persönlichen Fotoarchiv auf dem Smartphone
(Foto: Universität Basel, Christian Flierl)

Das Anlegen eines Fotoalbums antizipiert, dass die Erinnerung an Ereignisse mit der Zeit verblasst. Die Fotos bewahren diese Geschichten. Heute haben die meisten Leute ihr privates Fotoarchiv auf dem Handy, in der Cloud und auf den sozialen Medien.

In ihrer Lehrveranstaltung diskutiert Murielle Cornut mit Studierenden ihren Umgang mit Bildern. Der Blick auf historisches Material soll dazu anregen, sich Gedanken über das kulturelle Erbe der Zukunft zu machen. Woran werden wir uns in 100 Jahren erinnern? Und was soll lieber vergessen werden? Letztlich sei es auch einer gewissen Zufälligkeit unterworfen, ob ein Bild die Zeit überdauert, so die Forscherin.

Murielle Cornut ist Doktorandin im Fachbereich Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität Basel. Sie erforscht anhand der Sammlung der Familie Kreis, inwiefern Fotoalben als ordnende, sinn- und identitätsstiftende Gedächtnismedien funktionieren. Die Dissertation entsteht im Rahmen des SNF-Sinergia Projekts «Partizipative Wissenspraktiken in analogen und digitalen Bildarchiven».


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