x
Loading
+ -
Folge mir! (02/2022)

Was bedeutet die Neutralität für die Schweiz, Herr Kreis?

Text: Georg Kreis

Die Schweizer Neutralität wird hierzulande immer wieder neu verhandelt. Ein Historiker und ein Politikwissenschaftler zeigen auf, wie sich die Rolle der Schweiz in der internationalen Gemeinschaft entwickelt hat und heute darstellt.

Gezeichnetes Porträt von Georg Kreis
Prof. Dr. Georg Kreis. (Illustration: Studio Nippoldt)

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es zur schweizerischen Neutralität keine fixe Auslegung gibt und dass es ihre Umsetzung situationsbedingt nur im Plural gibt, man also im Grunde von Neutralitäten sprechen müsste. Als Grundprinzip zwar dauernd gegeben, erfährt die Neutralität in der Praxis unterschiedliche Beachtung. Das allgemeine Reden – und Schreiben – über Neutralität bewegt sich tendenziell zwar stets in gleichen Bahnen, ist aber auch bezüglich seiner Intensität Konjunkturen unterworfen.

Die jährlichen ETH-Umfragen zur Neutralität belegen mit ihren permanent hohen Zustimmungswerten, dass die Neutralität ein zentrales Element des kollektiven Schweizer Selbstverständnisses ist. Dabei bleibt offen, was darunter verstanden wird. Es wäre aber keine Lösung, mit einer präzisierenden Neudefinition als «aktiv», «kooperativ», «solidarisch» etc. ein den momentan überwiegenden Bedürfnissen entsprechendes Verständnis festzuschreiben.

Der traditionalistische Blick versucht, die Neutralität möglichst tief in der Vergangenheit anzusiedeln, um ihr so grösstes Gewicht zu verleihen. Frühe Bedeutung erlangte sie im 17. Jahrhundert in den konfessionell geprägten internationalen Auseinandersetzungen des Dreissigjährigen Krieges, die den Zusammenhalt der konfessionell gemischten Eidgenossenschaft bedrohten. Auch später hatte die im Prinzip neutrale Ausrichtung nach aussen stets die Funktion, im Landesinnern keine zusätzlichen Gegensätze aufkommen zu lassen.

Einen wichtigen Meilenstein in der weiteren Entwicklung bildete die Anerkennung der Neutralität 1814/15 durch die Mächte des Wiener Kongresses als «im Interesse Europas» liegend. Die Tatsache, dass die Schweiz in den grossen militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts nicht direkt betroffen war, wird von den Advokaten der Neutralität als Bewährungsbeweis gesehen, obwohl es dafür vor allem im Zweiten Weltkrieg auch andere Gründe gab, etwa ihre Nützlichkeit als Finanzdrehscheibe.

Georg Kreis ist emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Universität Basel und war Gründungsdirektor des Europainstituts. Er hat zahlreiche Publikationen zur Schweizer Geschichte, über Beziehungen der Schweiz zum Ausland und über Minderheiten verfasst.


Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

nach oben