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Angst. (01/2022)

«Wir versuchen immer, Verzicht irgendwie zu umgehen.»

Interview: Noëmi Kern

In der Pandemie nahmen wir uns zugunsten der Allgemeinheit zurück. Die Traumferien am Strand müssen aber sein – auch wenn es der Umwelt schadet. Georg von Schnurbein erklärt, wo der Unterschied liegt, warum wir Gutes tun und weshalb es dazu auch eine Portion Egoismus braucht.

Georg von Schnurbein
Prof. Dr. Georg von Schnurbein (Foto: Andreas Zimmermann)

UNI NOVA: Herr von Schnurbein, wann haben Sie das letzte Mal jemandem einen Gefallen getan?

GEORG VON SCHNURBEIN: Sicherlich diese Woche. Man tut ständig Menschen einen Gefallen. Wenn man sozusagen nur Dienst nach Vorschrift machen würde, dann würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren.

UNI NOVA: Sie würde auseinanderfallen?

VON SCHNURBEIN: Ja. Das ist ja gerade das, was uns Menschen auszeichnet: dass wir soziale Wesen sind und fähig, über den engeren Kern der Familie, unseres Clans hinauszudenken. Dadurch sind wir in der Lage, komplexe Strukturen wie eine Gesellschaft, einen Staat überhaupt aufzubauen. Es ist letztlich ein Ausdruck von Zivilisation, dass ich in der Lage bin, das Leid anderer zu erkennen und daraus eine Handlung meiner selbst abzuleiten, um etwas gegen dieses Leid zu tun, obwohl es mir gar nichts bringt im ersten Augenblick.

UNI NOVA: Was haben wir denn davon, wenn wir anderen einen Gefallen tun?

VON SCHNURBEIN: Ein Gefallen ist nicht etwas, wozu sofort eine Rechnung geschrieben wird. Ich erwarte dafür keine unmittelbare Gegenleistung, aber ich erwarte, dass ich etwas zurückbekomme, wenn ich selber mal etwas brauche. Auf der gesellschaftlichen Ebene sprechen wir von generalisierter Reziprozität: Ich engagiere mich zum Beispiel, indem ich mit alten Menschen in einem Pflegeheim Zeit verbringe, dafür gibt es Menschen, die am Wochenende die Wanderwege säubern, die ich benutze.

UNI NOVA: Ich will also doch etwas für mein Engagement haben.

VON SCHNURBEIN: Diese reziproken Prinzipien funktionieren auf einer übergeordneten Ebene. Wenn ich aber das Gefühl bekomme, dass ich der Einzige bin, der was macht, dann werde ich mich eher fragen: Muss ich das noch machen? Im Verein gibt es diese reziproken Prinzipien: Der eine ist ehrenamtlicher Trainer der Jugendgruppe, dafür steht ein anderer am Vereinsfest am Wurststand. Heute versucht man jedoch oft, sich daraus freizukaufen. Man ist bereit, mehr für das Sportangebot zu zahlen, zum Beispiel im Fitnessclub, und hat dafür keine zeitlichen Verpflichtungen.

UNI NOVA: Inwiefern?

VON SCHNURBEIN: Auf dem Land wird viel mehr Freiwilligenarbeit geleistet als in der Stadt, weil es da einen grösseren sozialen Druck gibt. Ich muss mitmachen, sonst habe ich in der Dorfgemeinschaft möglicherweise einen Nachteil. In der Stadt dagegen werden viele Dinge staatlich oder finanziell gelöst. Man hört dann, dass in der Stadt der gesellschaftliche Zusammenhalt schwächer ausgeprägt ist, weil die Berührungspunkte fehlen. Gelebter Altruismus oder Reziprozität fördern letztlich den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Denn das heisst ja, dass ich mich mit der Lebenssituation anderer Menschen auseinandersetze. Und das ist immer schon ein erster Schritt zur Besserung. Oft kommt man über Freiwilligenarbeit auch mit Bevölkerungsgruppen in Berührung, mit denen man sonst nicht so viel Kontakt hätte. Auch das fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

UNI NOVA: Gemäss Statistik leisten Frauen mehr Care-Arbeit, mehr informelle Freiwilligenarbeit und sie spenden mehr als Männer. Sind Frauen die besseren Menschen?

VON SCHNURBEIN: Die Statistiken beruhen immer noch stark auf den Generationen, in denen das klassische Rollenmodell noch stärker verankert ist. Das Aufweichen der Rollen hat auch Auswirkungen auf die Freiwilligenarbeit. Es kann sein, dass zum Beispiel Care-Arbeit künftig viel stärker finanziert wird durch den Staat und dadurch die informelle Freiwilligenarbeit in diesem Bereich zurückgeht. Aber dass Frauen eher eine Tendenz zum Sozialen haben als Männer oder es auf eine andere Art und Weise ausleben, glaube ich schon. Vielleicht ist es zum Teil Erziehung. Aber deswegen kann man nicht sagen, es ist grundsätzlich das Bessere.

UNI NOVA: Engagieren sich jüngere Menschen im gleichen Masse wie ältere?

VON SCHNURBEIN: Generell entwickelt sich das freiwillige Engagement über ein Leben in einer Wellenbewegung. Die Forschung zeigt, dass sich Menschen, die sich in ihrer Jugend engagierten, auch später engagieren, selbst wenn sie das zwischenzeitlich nicht mehr tun. Also ist es wichtig, dass man die Menschen frühzeitig mit freiwilligem Engagement in Berührung bringt. Aber die Gesellschaft verändert sich. Es gibt eine grössere Mobilität, mehr Individualismus und auch das freiwillige Engagement hat sich verändert. Ich würde nicht sagen, dass ein Niedergang der Freiwilligenarbeit zu erwarten ist. Das Engagement wird aber spontaner, kurzfristiger und ist eher projektbezogen. Man verpflichtet sich nicht mehr, Kassier zu sein und dann ist man das jahrelang. Es geht mehr um den übergeordneten Zweck, die Bindung an eine Organisation ist weniger stark. Das zeigt sich etwa bei der Klimajugend: Ist mir eine Gruppierung nicht radikal genug, gehe ich zur nächsten – oder umgekehrt. Für die bestehenden Organisationen ist das sicherlich eine Herausforderung.

UNI NOVA: In der Pandemie haben sich viele Leute freiwillig engagiert. Was können wir als Gesellschaft daraus lernen?

VON SCHNURBEIN: Man hat schon in der Flüchtlingskrise 2015 gesehen, dass frei williges Engagement in einer Gesellschaft unglaublich wichtig ist, um Krisen zu bewältigen. Der Mobilisierungsfaktor ist gross. Das kann man aber nicht über Monate aufrechterhalten. Es ist jedoch unheimlich wichtig, dass man weiss, wir haben dieses Potenzial.

UNI NOVA: Ist es ein Wohlstandsphänomen, nicht auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein?

VON SCHNURBEIN: Natürlich. Wenn es einen Lieferservice der Supermärkte gibt, muss ich nicht mit meinen Nachbarn darüber reden, ob sie für mich mit einkaufen gehen können.

UNI NOVA: In der Pandemie haben wir unser Verhalten zugunsten der Allgemeinheit angepasst. Warum schaffen wir das für den Klimaschutz nicht?

VON SCHNURBEIN: Der Unterschied ist, dass beim Klimaschutz die unmittelbaren Folgen des eigenen Handelns nicht so offensichtlich sind. Wenn ich weiss, meine Nachbarin kann wegen der Pandemie nicht raus, gehe ich für sie einkaufen und löse dieses Problem mit relativ wenig Aufwand. Das ist unmittelbar. Wenn ich aber auf Genuss oder Wohlstand verzichte, sehe ich nicht sofort, dass der CO2-Pegel fällt. Und wenn ich weniger Fleisch esse, sehe ich nicht weniger Tiere auf der Weide. Die Anstrengung läuft auf einer ganz anderen Ebene. Das macht es so schwierig.

UNI NOVA: Wie meinen Sie das?

VON SCHNURBEIN: Prosoziales Handeln ist eine Aktivität. Was aber für den Klimaschutz gefordert wird, ist Verzicht, ohne dass ich eine Belohnung oder einen Dank dafür bekomme. Und wir versuchen immer, Verzicht irgendwie zu umgehen.

UNI NOVA: Hauptsache, mir geht’s gut. Das ist egoistisch.

VON SCHNURBEIN: Ich kann nur überleben, wenn ich auch drauf schaue, wie es mir geht. Wir reden heute über Achtsamkeit, Selbstfürsorge und so weiter, das ist im Grunde die positive Seite des Egoismus. Das heisst ja, ich höre auf mein Inneres und wie es mir geht. Das ist wichtig, damit ich nach aussen positiv sein kann. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

UNI NOVA: Altruismus bedingt also ein gewisses Mass an Egoismus?

VON SCHNURBEIN: Ja. Es geht eben nicht nur darum, anderen zu helfen, sondern es geht auch um mich selbst. Jemand, der sich freiwillig engagiert und dabei kein Zufriedenheitsgefühl hat, der wird das bald nicht mehr tun. Grundsätzlich anzunehmen, dass freiwilliges Engagement und Spenden immer nur für die anderen sind, das ist eben falsch.

UNI NOVA: Spenden ist demnach nicht altruistisch?

VON SCHNURBEIN: Altruismus hat in der klassischen Definition etwas mit einem Opfer zu tun: Man gibt etwas und ist bereit, dafür die eigene Wohlfahrt einzuschränken. Bei Freiwilligenarbeit gebe ich Zeit, die ich vielleicht für was anderes brauchen könnte, und ich beschneide mich dort. Was wir spenden, ist aber eigentlich immer Überfluss. Deswegen ist Spenden für mich kein reiner Altruismus. Es ist für mich eher ein Ausdruck von Reziprozität: Wir spenden, weil wir wissen, da gibt es Menschen, die unsere Hilfe brauchen, oder Themen, die unterstützt werden müssen. Gleichzeitig erwarten wir, dass wir Unterstützung bekommen, wenn wir Hilfe brauchen.

UNI NOVA: Wofür spenden wir?

VON SCHNURBEIN: Traditionell wird in der Schweiz sehr viel für Entwicklungszusammenarbeit gespendet. Zurzeit wird sehr viel mehr für Klimawandel oder für Umweltschutz gegeben als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Es gibt natürlich so Topthemen, die bleiben immer: Das sind einerseits Kinderthemen, Krebs und eben neuerdings der Umweltschutz. Früher war der vielleicht auf Rangfolge 10.

UNI NOVA: Kaufen wir uns durch Spenden nicht einfach ein gutes Gewissen?

VON SCHNURBEIN: Spenden ist kein Ablasshandel, denn ich mache es freiwillig und ich mache es dort, wo ich es sinnvoll finde, in einer positiven Grundhaltung. Ich würde es deshalb nicht als ein Sich-Freikaufen bezeichnen. Spenden ist eigentlich eine der wichtigsten Formen des Ausdrucks von gesellschaftlicher Orientierung. Für viele Menschen ist Spenden eine Möglichkeit, sich gemeinnützig zu engagieren. Der Anteil der Bevölkerung, die sich freiwillig engagiert, liegt in der Schweiz bei 35 Prozent. Der Anteil der Spendenden ist bei 77 Prozent. Man kann zugespitzt sagen, in der Schweiz spenden mehr Menschen, als sich an politischen Wahlen beteiligen. Spenden ist auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen: Es ist ja nicht so, dass einem die Hilfswerke das Geld aus der Tasche ziehen für ihre persönlichen Ideale und Ideen, sondern sie reagieren ja letztlich darauf, was die Gesellschaft braucht.


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