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Mehr! (02/2021)

Müssen wir Gesetzen immer gehorchen, Frau Cueni?

Text: Raphaela Cueni

Wer gegen geltendes Recht verstösst, muss mit Konsequenzen rechnen.
Welche Gründe gibt es aus juristischer Sicht, sich trotzdem nicht an Gesetze zu halten?

Dr. Raphaela Cueni. (Illustration: Studio Nippoldt)
Dr. Raphaela Cueni. (Illustration: Studio Nippoldt)

In einer Gesellschaft zu leben, in der alle nur jene Rechtsnormen befolgen, die sie selber für gerecht halten oder die ihnen im Einzelfall nützlich erscheinen, wäre wenig praktikabel. Es gibt also schon aus praktischen Überlegungen gute Gründe, warum sich Rechtsbetroffene an rechtmässig – also in den dafür vorgesehenen Verfahren – zustande gekommene Rechtsnormen halten sollten.

Auch wäre es mit zentralen Grundsätzen unserer Verfassung wie etwa der Gewaltenteilung oder der Rechtsgleichheit nicht vereinbar, wenn Behörden nur diejenigen rechtlichen Normen durchsetzen würden, die sie im Einzelfall für sinnvoll oder gerecht befinden. Eine derartige Rechtsordnung könnte das Anliegen, dass sie vorsehbar sein soll, nicht erfüllen.

Das heisst allerdings nicht, dass die Rechtsordnung von den Rechtsbetroffenen eine bedingungslose Akzeptanz einfordert. Ganz im Gegenteil: Gesetze, Verordnungen und gar die Verfassung dürfen und sollen geändert werden. Eine Demokratie zählt darauf, dass jede und jeder die Rechtsordnung als die eigene akzeptieren kann. Um dieses Ideal der Selbstgesetzgebung zu verwirklichen, sind unterschiedliche Mechanismen vorgesehen. Dazu zählen in der Schweiz Instrumente der demokratischen Mitwirkung wie etwa Volksinitiativen, aber auch die repräsentative Demokratie oder föderalistische Strukturen. Die Rechtsordnung sieht zudem Möglichkeiten vor, gerichtlich gegen bestimmte Gesetze und Verordnungen vorzugehen oder sie im Zusammenhang einer konkreten Anwendung durch ein Gericht etwa daraufhin überprüfen zu lassen, ob sie mit der Verfassung vereinbar sind.

Eine besondere Bedeutung kommt im kritischen Umgang mit bestehendem Recht auch den in der Verfassung garantierten Grundrechten zu, etwa der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit. Sie vermitteln jedem Individuum das Recht, eine Meinung zu äussern – auch wenn die Äusserung erwiesen falsch oder gesellschaftlich weitgehend wertlos sein mag. Weiter steht es jeder Person frei, sich zu diesem Zweck mit anderen Menschen zusammenzuschliessen und bestehenden Unmut öffentlich kundzutun. Proteste von Menschen gegen Rechtsnormen, welche sie für ungerecht halten, sind deshalb von der Rechtsordnung nicht nur geduldet, sondern sie sind integraler Bestandteil derselben. Entsprechend ist es rechtlich besonders problematisch, wenn die Einschränkung von Meinungen oder Versammlungen gefordert wird, weil die geäusserten Ideen für falsch oder widersinnig befunden werden.

Raphaela Cueni ist Postdoktorandin und Lehrbeauftragte für Öffentliches Recht. Im Rahmen ihres Habilitationsprojekts arbeitet sie zu Fragen der Transparenz von staatlichem Handeln und befasst sich mit aktuellen Fragestellungen im Bereich der Kommunikationsgrundrechte.

Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

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