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Mehr! (02/2021)

Die Vermessung der Psyche.

Interview: Urs Hafner

Die Seele ist für die Medizin schwieriger zu fassen als ein auffälliger Hautfleck oder ein gebrochenes Bein. Mit Bluttests und Hirnscans könnte die Psychiatrie neue Wege beschreiten, ist Annette Brühl überzeugt.

Prof. Dr. Annette Brühl.
Prof. Dr. Annette Brühl. (Foto: Oliver Hochstrasser)

UNI NOVA: Frau Brühl, Sie sind Professorin für affektive Störungen, also für «Gefühlsstörungen». Sind heftige Gefühle nicht immer störend?

ANNETTE BRÜHL: Nein, Gefühle sind aus meiner Sicht sozusagen das Gewürz des Lebens. Sie sind wichtig, weil sie uns sagen, was wir mögen und was nicht. Sie helfen uns dabei, uns besser kennenzulernen. Aber ein Gericht kann zu viel Chili oder Salz enthalten, und dann wird es ungeniessbar.

UNI NOVA: Wann wird ein Gefühl ungeniessbar?

BRÜHL: Nehmen wir ein Beispiel: Jemand verliert einen Angehörigen. Wenn die trauernde Person eine Woche lang nicht mehr aus dem Bett kommt, ist das akzeptabel, wenn sie einen Monat liegen bleibt vor lauter Verzweiflung, wird es auffällig und schränkt das Leben ein. Die Zeit ist aber nur ein Faktor. Hinzu kommen die Intensität der Trauer und die durch sie hervorgerufene Beeinträchtigung des eigenen Lebens und der Umwelt. Wenn die Person sich gar nicht mehr vom Ereignis lösen kann und keine Balance mehr findet, ist sie womöglich in eine Depression geraten.

UNI NOVA: Das Sich-Lösen gelingt auch in weniger traurigem Kontext nicht immer, nehmen wir etwa die Anfang Sommer erfolgte Aufhebung der Corona-Maskenpflicht im Freien. Trotzdem liefen weiterhin viele Menschen mit einer Maske herum. Stehen sie am Anfang einer Gefühlsstörung?

BRÜHL: Eher nicht. Erstens war das Tragen einer Gesichtsmaske etwa in Japan und Südkorea im Fall einer Infektionskrankheit schon vor der Pandemie gang und gäbe, zweitens ist das Tragen so lange unproblematisch, wie die Person damit niemanden stört und selbst nicht darunter leidet. Schwieriger wird es, wenn die Person einen Wasch- und Hygienezwang entwickelt, von dem sie gerne befreit wäre.

UNI NOVA: Und wenn jemand Genuss aus dem Leiden zieht?

BRÜHL: Sie meinen Masochismus? Nun, wenn die Person in der Summe eine positive Bilanz aufweist für ihr Leben mit Zwang, dann stimmt das so für sie – aber was ist mit dem Umfeld? Ich hatte eine Klientin, die von ihrem Mann verlangte, dass er sich jedes Mal von Kopf bis Fuss desinfizierte und die Kleidung wechselte, bevor er die Wohnung betrat.

UNI NOVA: Der Hobbypsychologe sagt: Sie wollte ihren Mann loswerden …

BRÜHL: Nein, sie hatte einfach panische Corona-Angst. Sie hat sich jeden Tag stundenlang die Hände gewaschen. Der Hund musste sein Geschäft auf dem Balkon verrichten, auch das Kind durfte das Haus nicht mehr verlassen. Die Umgebung litt zusehends unter ihrem Zwang.

UNI NOVA: Was haben Sie gemacht?

BRÜHL: Die Symptomatik war zum Glück noch frisch und nicht chronifiziert. Ich habe der Patientin klare Informationen zur Pandemie, eine realistische Einschätzung des Gefahrenpotenzials sowie strukturierende Instruktionen gegeben, also dass sie die Konfrontation mit dem, was sie stresst, nicht vermeiden solle. Das ist der springende Punkt.

UNI NOVA: Sie haben die Frau also geheilt?

BRÜHL: Sie ging wieder aus dem Haus mit Kind und Hund. Sie merkte, dass keine Katastrophe passiert, wenn sie sich ihren Ängsten stellt.

UNI NOVA: Die Patientin hat sich vorbildlich und vernünftig verhalten. Was machen Sie, wenn der Kranke nicht auf Sie hört?

BRÜHL: Die Heilung erfolgte hier nicht nur mit Vernunft: Ich verschrieb der Frau zunächst ein Psychopharmakon, weil sie aufgrund des Stresses nicht mehr schlafen konnte. Der Stimmungsaufheller begünstigte die erfolgreiche psychotherapeutische Behandlung. Aber auch für schwere Fälle gilt das Prinzip: Der Patient muss herausfinden, welche Ängste und Verhaltensweisen ihm im Weg stehen, und die Motivation finden, ein Leben zu führen, das mit seinen Zielen und Werten im Einklang steht. Hätte ich die Frau zu einem späteren Zeitpunkt behandelt, hätte sich vielleicht inzwischen der quasi desinfizierte Mann von ihr getrennt, das isolierte Kind hätte Schulschwierigkeiten bekommen, und sie wäre verzweifelt. Aber die Heilung wäre nicht grundsätzlich anders verlaufen.

UNI NOVA: Oft hört man, die Pandemie habe viele Menschen psychisch krank gemacht. Wie haben Sie das erlebt?

BRÜHL: Weder in Basel noch in Zürich, wo ich vorher arbeitete, ist bis jetzt eine Zunahme von diagnostizierten Erkrankungen zu verzeichnen. Wenn ich eine an Corona verstorbene Person betrauere, bin ich ja noch nicht krank, sondern erst dann, wenn ich nicht mehr aus der Trauer herausfinde und diese mich lähmt. Das können wir aber erst mit zeitlicher Verzögerung feststellen, wir werden also wahrscheinlich bald mehr Patientinnen und Patienten haben. Und man darf nicht vergessen: Corona hat viele Menschen verängstigt, aber auch vielen Entlastung gebracht, etwa von Konflikten am Arbeitsplatz. Den Belasteten stehen die Erleichterten gegenüber.

UNI NOVA: Die Corona Stress Study hat in der Bevölkerung jedoch vermehrt depressive Symptome festgestellt. Wie erklären Sie sich die Diskrepanz zu Ihrer Erfahrung?

BRÜHL: Depressive Symptome sind noch lange keine Erkrankungen. Wenn ich es im Lockdown vermisst habe, mit Freunden auszugehen, macht mich das traurig, aber ich habe noch keine Depression. Die Trauer ist eine Reaktion, die der Situation angemessen ist. Wenn ich an anderen Dingen Freude finde, mich mit Hobbies beschäftige und nach der Lockerung der Massnahmen und dem Nachlassen der Bedrohung wieder auflebe, dann war ich zwar belastet, bin aber nicht depressiv. Patienten mit Depressionen sind traurig, freud- und antriebslos, obwohl ihre Umgebung eigentlich positiv ist.

UNI NOVA: Im Klassifikationssystem psychischer Störungen, im DSM, kommen seit Jahren mit jeder Aktualisierung neue Krankheiten hinzu. Werden die Menschen immer irrer oder schaut die Medizin einfach genauer hin?

BRÜHL: Letzteres! Wir stehen heute in der Psychiatrie an dem Punkt, wo die innere Medizin in den 1970er-Jahren stand. Wir werden immer präziser. Die Psychiatrie ist ja eine relativ junge Wissenschaft, nur etwas älter als hundert Jahre. Um 1900 verfügte sie nur über drei Diagnosen, nämlich Depression, Manie und Neurose. Daneben ging sie vor allem deskriptiv vor, indem sie die Symptome und Verläufe von Krankheiten beschrieb, ohne die Ursachen zu kennen. Da sind wir heute viel weiter.

UNI NOVA: Das klingt optimistisch. Der Blick in die Geschichte zeigt aber, dass psychische Krankheiten kommen und gehen. Die Hysterie ist verschwunden, noch in den 1980er-Jahren galt Homosexualität als Störung, heute leiden Kinder an Dysphorie, an der Geschlechtsidentitätsstörung. Schafft sich jede Gesellschaft ihre eigenen Krankheiten?

BRÜHL: Die Psychiatrie ist mehr als andere medizinische Fächer in gesellschaftliche und moralische Fragen verstrickt. Für die Hautärztin bleibt der Fleck auf der Haut ein Fleck, was es aber mit der Angst auf sich hat, unter der jemand leidet, ist schwieriger zu fassen. Gerade darum ist die Biologie für uns so wichtig. Mit ihr stossen wir in eine neue Dimension vor.

Ich glaube, dass wir bald schon genau definierten Krankheitsgruppen die passenden Medikamente zuordnen können, so wie die Onkologie bei Brustkrebs aufgrund genetischer Diagnosen passende Therapien durchführt.

UNI NOVA: Was meinen Sie mit Biologie?

BRÜHL: Die Analyse der Daten des Hirns und des Blutes der Patientinnen und Patienten. Mit der Biologie machen wir unser Fach objektiver, weil wir die Subjektivität des Kranken um eine Dimension erweitern. Aber wir stehen erst am Anfang. Da wir noch über keine präzisen Laborwerte und Hirnbilder verfügen wie die innere Medizin, sind wir noch immer vor allem auf die Aussagen der untersuchten Person angewiesen.

UNI NOVA: Die Psychiatrie dachte immer wieder, sie finde die Ursachen psychischer Krankheiten im Körper. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts war die Erbbiologie dominant, gemäss der sich Schwachsinn von einer Generation zur nächsten fortpflanze, die These wurde aber aufgegeben. Dreht sich die Psychiatrie im Kreis?

BRÜHL: Wir sind in der genetischen Forschung viel weiter als damals! Wir wissen nun, dass es kein einzelnes Gen für Depression oder Schizophrenie gibt. Die Vererbung psychischer Krankheiten findet statt, aber sie verläuft viel komplexer. Es gibt in der Psychiatrie keine Krankheiten, die auf einem einzigen vererbten Gen beruhen, sondern nur solche, bei denen viele kleine genetische Faktoren zusammenspielen. Dank genetischer Analysen wissen wir heute, dass bipolare Erkrankungen, also wenn jemand manischdepressiv ist, genetisch der Schizophrenie näher stehen als der unipolaren Depression. Dieses Wissen hat zu erfolgreicheren Medikationen geführt. Wenn wir noch mehr Daten haben, können wir die Medikamente noch genauer verschreiben.

UNI NOVA: Sehen Sie bei der medikamentenbasierten Psychiatrie auch Nachteile, dass etwa die Patientinnen und Patienten nur mehr gedämpft durchs Leben gehen und keine Gefühle mehr empfinden?

BRÜHL: Wenn einer nur mehr gedämpft durchs Leben geht, dann ist die Behandlung schlecht. Sie beinhaltet immer auch psychotherapeutische Elemente. Je nach Erkrankung stehen Medikamente oder Psychotherapie im Vordergrund, aber die Behandlung ist nie nur medikamentös. Generell sollte sie dazu führen, dass die Patientin sowohl positive als auch negative Gefühle in einem für sie guten Mass empfindet, sie möglichst wenig leidet und gut am Leben teilhat.

UNI NOVA: Sie haben jeden Tag mit Menschen zu tun, die sich auf der Grenze zwischen dem bewegen, was als normal und als nicht normal gilt. Hat dies Ihren Blick auf das Leben geprägt?

BRÜHL: Da müssten Sie meine Freunde fragen. Ich bin nicht der grüblerische Typ, der den Kontakt zur Realität verliert, und ich bin damit gesegnet, nach Feierabend die Bürotür hinter mir schliessen und die Themen im Büro lassen zu können. Im Lauf der Jahre habe ich ein grösseres Verständnis für die Vielfalt an Lebensgestaltungen gewonnen. Ich staune immer wieder, wie Menschen es schaffen, trotz ihrer Erkrankung gut zu leben. Ich schaue mir allerdings kaum mehr Filme an, in denen die Psychiatrie eine Hauptrolle spielt, etwa «Black Swan» oder «Einer flog über das Kuckucksnest». Erkrankungen werden meist so verzerrt dargestellt, dass ich mich nur aufregen und meine Begleitung nerven würde.

UNI NOVA: Die Filme artikulieren ein Unbehagen gegenüber der Psychiatrie. Woher könnte dieses kommen?

BRÜHL: Es ist nicht zu bestreiten, dass die Psychiatrie sich in der Vergangenheit in den Dienst moralisch fragwürdiger Entscheidungen gestellt und unerwünschte Personen ausgegrenzt hat. Das ist heute anders, ich erlebe die Psychiatrie als reflektiert und ethisch bewusst. Dazu kommt, dass psychische Erkrankungen für die Öffentlichkeit mit Unbehagen und Stigma besetzt sind, weil sie die Person direkt betreffen und schwierig zu verstehen sind – im Gegenteil zu einem gebrochenen Bein oder einem Tumor, der auf dem Röntgenbild zu sehen ist. Schliesslich ist das Wissen der Bevölkerung darüber, was in der Psychiatrie passiert, viel geringer als beispielsweise bei der Chirurgie. Die Psychiatrie braucht mehr Sichtbarkeit, und die Öffentlichkeit braucht mehr realistische Information.


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