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Schöne Erholung – Neues aus der Schlafforschung (01/2016)

Die Kunst der Ethnografie

Text: Samuel Schlaefli

Silvy Chakkalakal erforscht die Fotografien und Filme der US-Ethnologin Margaret Mead. Deren Feldforschung auf Samoa und Bali war nicht nur wissenschaftliche Studie, sondern genauso künstlerische Praxis.

Dr. Silvy Chakkalakal.
Dr. Silvy Chakkalakal. (Bild: Universität Basel, Basile Bornand)

In Silvy Chakkalakals schmucklosem Büro in der alten Universität am Rheinsprung verpuffen naive Abenteurerfantasien, die Leser von Claude Lévi-Strauss oder Margaret Mead mit dem Beruf der Ethnologin verbinden. Keine holzgeschnitzten Masken, mit handschriftlichen Notizen übersäten Landkarten oder nach Tropen riechenden Forschungsberichte. Auf dem Pult der Kulturwissenschaftlerin liegen neben einem grossen Computerbildschirm ein Haufen ringgebundener Vorlesungsskripte, einige dicke Wälzer neueren Datums und ein Smartphone.

Einzig eine kleine Plastikfigur einer prototypischen Schönheit aus der TV-Serie «Games of Thrones» versprüht etwas Abenteuer. «Ein Geschenk einer Studentin», sagt Chakkalakal und erklärt: In einem Seminar analysierte sie mit Studierenden Bildpraktiken in aktuellen Fernsehserien und suchte in Fabelwesen, Zombies und Vampiren nach kulturellen Mustern und Beiträgen zu Politik, Rassen- und Klassenfragen. Solch kulturelles Dechiffrieren von Bildern gehört zu den Spezialgebieten der 37Jährigen.

Kindheit als Projektionsfläche

Es waren Chakkalakals Neugier, ihr Faible für Literatur und eigene Erfahrungen als Kind südindischer Einwanderer in Deutschland, die sie vor fast 20 Jahren für die Kulturwissenschaft begeisterten: «Das Eigene fremd machen und den ethnologischen Blick auf Dinge anwenden, die uns alltäglich erscheinen, das hat mich immer schon interessiert.» Schnell fand sie zum Forschungsthema, das sie über viele Jahre hinweg begleiten würde: die Kindheit. «Sie ist eine der letzten grossen Projektionsflächen unserer Zeit. In Diskursen darüber finden sich alle möglichen gesellschaftlichen Wünsche, Visionen und Vorstellungen», erklärt Chakkalakal.

Kindheit ist für die Forscherin eine rein kulturelle Kategorie. Diese wird zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten unterschiedlich eingesetzt, um gesellschaftliche Agenden zu verfolgen. Bald betrieb sie dazu eigene Feldforschung: In Interviews mit Eltern aus Berlin Kreuzberg ging sie der Frage nach, inwiefern die Figur des «Ausländerkinds» erst durch die elterliche erzieherische Praxis konstruiert wird.

Mit ihrer Doktorarbeit begann eine vertiefte historische Auseinandersetzung mit dem Thema. Beim Stöbern im Archiv des Deutschen Museums in München entdeckte sie zufällig Friedrich J. Bertuchs «Bilderbuch für Kinder», einen Sammelband von Kinderheften, die zwischen 1790 bis 1830 in ganz Deutschland populär waren. Mit Abbildungen von neusten Erkenntnissen aus Botanik, Zoologie, Geografie und Technik sollte den Kindern die Welt erklärt werden.

Chakkalakal machte sich an die sozialwissenschaftliche und historische Interpretation des Buchs. Bald erkannte sie im Boom solcher Publikationen für Kinder zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine direkte Folge einer aufkommenden bürgerlichen Vorstellung: Die Kindheit wurde zur schützenswerten Phase, zu einer Zeit der Bildung, die für späteren Erfolg im Leben entscheidend ist. «Dass die Zukunft von der Kindheit abhängig gemacht wurde, entsprang auch dem Wunsch, die eigenen Klasseninteressen abzusichern», resümiert die Forscherin.

Fotos, Filme, Lyrik und Musik

Der Sprung von Berlin nach Basel war eine Folge von Chakkalakals Spezialisierung auf die Bildinterpretation. In einem SNF-Verbundprojekt zwischen den Universitäten Basel und Bern interessieren sich Kulturwissenschaftlerinnen und Anglisten auch für die visuelle Feldforschung dreier berühmter US-Ethnologen. Diese hatten ihre Ethnografien nicht nur in Form wissenschaftlicher Artikel und Bücher verarbeitet, sondern genauso in Fotografien, Filmen, Lyrik und Musik. Ziel ist, herauszufinden, in welchem Bezug deren künstlerische Praxis zur wissenschaftlichen Praxis stand.

Chakkalakal konzentriert sich auf die Ethnologin Margaret Mead. Obschon sich deren Bücher in den 1930er- und 1940er-Jahren millionenfach verkauften und spätere Generationen ihres Fachs stark beeinflussten, bleibt ihre Feldforschung mit visuellen Mitteln bis heute weitgehend unerforscht. Zwei Mal reiste Chakkalakal nach Washington, um im Mead-Archiv der Library of Congress nach Bildern und Filmen zu recherchieren.

Was sie vorfand, war gigantisch: Alleine in Bali schoss Mead mit ihrem Mann Gregory Bateson in den 1930erJahren über 25 000 Fotos und bespielte 500 Filmrollen. Chakkalakal begann das Gesehene historisch einzuordnen in eine Zeit, in der das Interesse am Fremden stark zunahm. Einer Zeit der Bewahrungsethnologie, in der die Forschenden ununterbrochen filmten, fotografierten und notierten, weil sie darin die letzte Gelegenheit vermuteten, vom Aussterben bedrohte indigene Kulturen einzufangen.

Kulturwissenschaft, die sich einmischt

Mead ist für Chakkalakal auch Inspiration für die eigene Arbeit. Die US-Ethnologin beteiligte sich zeitlebens an öffentlichen Diskussionen und kämpfte gegen Rassismus, Eurozentrismus und überkommene Rollenbilder. «Kulturwissenschaftlerinnen arbeiten auch heute oft an brandaktuellen sozialen Fragen, die tagtäglich in den Medien verhandelt werden. Wir müssen uns mit unserem Wissen wieder vermehrt in öffentliche Debatten einmischen», ist Chakkalakal überzeugt. Als Beispiel nennt sie den Fall der sexuellen Übergriffe in Köln und deren Kopplung mit wiederkehrenden rassistischen Stereotypen.

Eine Möglichkeit, um ihre Forschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, entdeckte Chakkalakal kürzlich in der Museumsarbeit. Derzeit plant sie mit dem Johann Jacobs Museum in Zürich zwei Ausstellungen zur gegenseitigen Befruchtung zwischen Kunst und Ethnologie. Davor wird die Kulturanthropologin nochmals während zwei längeren Aufenthalten in den USA in Archiven wühlen und abermals in die Welt von Margaret Mead eintauchen.

Silvy Chakkalakal studierte Kulturwissenschaft und Literaturkomparatistik in Tübingen, London und Berlin. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Doktorarbeit erschien 2014 unter dem Titel «Die Welt in Bildern» im Wallstein Verlag. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie analysiert sie derzeit die visuelle Feldforschung der US-Ethnologin Margaret Mead.

 

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