x
Loading
+ -
Schöne Erholung – Neues aus der Schlafforschung (01/2016)

Judenspanisch, eine fast vergessene Sprache

Text: Olivia Poisson

Im Spätmittelalter mussten zahlreiche Juden aus Spanien und Portugal ins damalige osmanische Reich auswandern. Ihre Sprache hat sich in kleinen Inseln bis heute bewahren können – die Erforschung des Judenspanisch wirft ein Licht auf die Sprachentwicklung überhaupt.

Wer heute einen althochdeutschen Text aus dem 9. Jahrhundert liest, wird seine liebe Mühe haben, ihn zu verstehen. Nicht nur, weil die Themen fremd erscheinen, sondern auch, weil Syntax und Orthografie sich über die Jahrhunderte stark verändert haben. Jede Sprache entwickelt sich ständig weiter und ändert ihre Erscheinungsform. Manchmal spalten sich im Lauf der Zeit Sprachvarietäten ab, die sich anders als die Ursprungssprache entwickeln, und nicht selten sterben Sprachen auch einfach aus. Weshalb und wie genau dieser Prozess abläuft, ist eine der grossen Fragen der Sprachforschung.

Leben und Sterben

An der Universität Basel forscht Prof. Beatrice Schmid, Professorin für Iberoromanische Linguistik, seit 1999 über Sprachgeschichte und Sprachkontakt. Insbesondere beschäftigt sie sich mit der Erforschung und Dokumentation der modernen judenspanischen Schriftsprache. Das Judenspanisch (Judeoespañol) oder Ladino ist die traditionelle Sprache der sephardischen Juden des ehemaligen Osmanischen Reichs. Sepharden sind die Nachkommen jener Juden, die bis zu ihrer Vertreibung Ende des 15. Jahrhunderts in Spanien und Portugal lebten. Auch in der Schrift weit verbreitet, war Judenspanisch noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts die Hauptsprache der jüdischen Gemeinden im Osmanischen Reich. Durch dessen Zerfall und die darauffolgende Bildung einzelner Nationalstaaten wie Griechenland, Bulgarien und die Türkei wurde sie immer weiter von den jeweiligen Landessprachen verdrängt.

Obwohl mittlerweile so gut wie ausgestorben, stellt die Geschichte des Judenspanisch für die Forschung ein aufschlussreiches Beispiel an Sprachentwicklung dar. «Wer sich mit Sprachentwicklung beschäftigt, fragt sich ständig, wieso sich eine Sprache genau so und nicht anders entwickelt hat. Judenspanisch ist ein faszinierendes und lebendiges Beispiel dafür, wie sich Spanisch unter anderen Umständen eben auch hätte entwickeln können», erklärt Schmid ihre Faszination für das Gebiet.

Die wichtigsten sephardischen Gemeinden im früheren Osmanischen Reich.
Die wichtigsten sephardischen Gemeinden im früheren Osmanischen Reich.

Linguistische Pionierarbeit

Als die Sprachwissenschaftlerin die ersten Veranstaltungen zum Judenspanisch anbot, beschäftigte sich kaum jemand mit der Thematik, und auch heute noch stellt sie ein Randgebiet dar. Wie also kam sie auf dieses Gebiet? Wie so oft hat auch hier der Zufall eine grosse Rolle gespielt. «Ich war an einem Kongress, an dem zufällig auch zwei der für ihre Streitigkeiten bekannten Forscher zum Judenspanisch eine Veranstaltung durchführten. Aus purer Neugier ging ich hin und war von da an fasziniert von der Thematik», erinnert sich Schmid.

«Zunächst wollte ich in Basel eigentlich nur einmalig eine Vorlesung und ein Seminar dazu anbieten, die Studierenden haben mich dann aber beinahe gezwungen, damit weiterzumachen.» Das war vor 16 Jahren, und motiviert von der Begeisterung und Mitarbeit der Studierenden, bietet Schmid diesen Bereich bis heute jedes zweite Semester an.

In den folgenden Jahren hat sie den Forschungsschwerpunkt Judenspanisch aufgebaut und die Universität Basel zur einzigen in Europa gemacht, die einen solchen Schwerpunkt kennt. Zusammen mit ihren Studierenden leistete Schmid hier echte Pionierarbeit, indem sie 2002 damit begann, den weltweit ersten umfassenden Textkorpus zum Judenspanisch zusammenzutragen.

Ein solches Korpus, also eine Sammlung schriftlicher Texte einer bestimmten Sprache, bildet die Grundlage für linguistische Forschung. Auf das Zusammentragen folgte das zeitintensive Transkribieren der Texte. «Wir haben von 2002 bis 2006 an der Aufarbeitung des Korpus gearbeitet. Erst danach konnten wir damit beginnen, die Früchte unserer Vorarbeit zu ernten», so Schmid. Konkret heisst das, dass seither anhand dieser Quellen die speziellen Erscheinungsformen des geschriebenen Judenspanisch ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts untersucht werden. Daraus hervorgegangen sind bereits vier Dissertationen und eine Habilitationsschrift. Vor Schmid und ihrer Gruppe gab es so gut wie keine sprachwissenschaftliche Untersuchung dazu. Erst in den letzten zehn Jahren hat das Fachgebiet in Israel und den USA ebenfalls Fuss gefasst.

Einfluss verschiedener Kulturen

Das Judenspanisch lässt sich in seiner Funktion für die sephardischen Juden mit dem Jiddisch für die aschkenasischen Juden vergleichen. Es ist eine Sprache, die sich im Lauf der Jahrhunderte unter dem Einfluss mehrerer Kontaktsprachen herausbildete. Ihr Ursprung liegt in der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492 bzw. aus Portugal 1497. Vor dieser Zäsur deckte sich das Spanisch der Juden mit dem der restlichen Bevölkerung. Ähnlich wie bei den Katholiken das Latein, wurde Hebräisch fast nur im religiösen Kontext verwendet.

Nach der Vertreibung siedelte sich ein grosser Teil der spanischen Juden im damaligen Osmanischen Reich an, ihr Spanisch nahmen sie dorthin mit. Die sephardischen Gemeinden lebten in abgeschotteten Gemeinden innerhalb des Vielvölkerstaats. Dadurch blieb Spanisch über Generationen hinweg ihre Hauptsprache. Im Lauf der Jahrhunderte und unter Einfluss mehrerer Kontaktsprachen bildete sich eine deutliche Varietät des Spanischen heraus. Wohl der offenkundigste Unterschied: Judenspanisch wird mit hebräischen Buchstaben geschrieben. Aber auch viele Einflüsse aus dem Türkischen und aus den Balkansprachen finden sich.

Forschung vor dem aussterben?

Schmid schätzt, dass sich weltweit weniger als 50 Personen sprachwissenschaftlich mit der Thematik beschäftigen. Wie sieht also die Zukunft der Forschung unter diesen Umständen aus? «Das Judenspanisch wird sicher immer ein Randgebiet bleiben. Aber dennoch, oder gerade deswegen, ist es ein Gebiet mit Zukunft. Diese liegt aber klar in den USA, wo heute viele Nachkommen der Sepharden leben, und in Israel, wo mittlerweile die meisten Universitäten den Schwerpunkt anbieten», so die Professorin.

Die Universität Basel trägt ihren Teil zu dieser Zukunft bei und hat mehrere Fachleute ausgebildet. So ist Schmids erste Doktorandin mittlerweile Professorin an der Universität Bern, wo sie Forschung und Lehre zu dieser aussergewöhnlichen Sprache weiterführt.

Beatrice Schmid lehrt und forscht seit 1999 als Professorin für Iberoromanische Linguistik an der Universität Basel, wo sie die Forschungsgruppe Judenspanisch leitet. In Anerkennung ihrer Forschung auf dem Gebiet der sephardischen Varietät des Spanischen wurde sie 2015 zum korrespondierenden Mitglied der Königlich Spanischen Akademie (Real Academia Española) ernannt.

 

Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

nach oben