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Osteuropa – Von Kostümen, Konflikten und Kulturräumen (02/2015)

Das Rütli der Sowjetunion

Till Hein

Im September 1915 versammelten sich in Zimmerwald bei Bern Lenin, Trotzki und rund drei Dutzend weitere linke Politiker und Aktivisten aus zwölf europäischen Ländern. Sie träumten davon, die Arbeiterbewegung international zu vereinigen und den Ersten Weltkrieg zu stoppen: Hundert Jahre später beleuchten Basler Osteuropahistoriker das Geheimtreffen – und sein kurioses Nachleben in der Erinnerungskultur in Ost und West.

Getarnt als ornithologischen Kongress, versammelten sich in der Pension «Beau Séjour» in Zimmerwald 1915 Sozialisten aus zwölf europäischen Ländern. (Bild: Fotoarchiv Gemeinde Wald)
Getarnt als ornithologischen Kongress, versammelten sich in der Pension «Beau Séjour» in Zimmerwald 1915 Sozialisten aus zwölf europäischen Ländern. (Bild: Fotoarchiv Gemeinde Wald)

5. September 1915. Die Mittagssonne taucht die sanften Hügel des Längenbergs in warmes Licht. Rotkehlchen und Feldlerchen zwitschern. Auf Pferdefuhrwerken kommen Fremde durch die Wiesenlandschaft südlich von Bern angereist. Die rund drei Dutzend Männer sind als Vogelfreunde angemeldet, die in der Pension «Beau Séjour» von Zimmerwald einen ornithologischen Kongress abhalten wollen.

Das Dorf ist noch kaum auf Fremdenverkehr eingestellt, es gibt nur wenige Gästebetten. Einige der vermeintlichen Vogelliebhaber werden daher beim Tierarzt, andere beim Briefträger privat untergebracht. In Wirklichkeit handelt es sich bei den Gästen um prominente linke Politiker und Aktivisten aus zwölf europäischen Ländern, darunter Wladimir Iljitsch Lenin und Leo Trotzki. Auf Einladung des Berner Sozialdemokraten Robert Grimm sind sie zu einem konspirativen Treffen angereist. Ihr gemeinsames Ziel: Sie wollen die Arbeiterbewegung international vereinigen und das Massensterben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs stoppen.

Vier Tage lang werden sie in Zimmerwald streiten, diskutieren und Pläne schmieden. Manche der Teilnehmer gelten in der Schweiz als linksradikale Demokratiefeinde. Doch obwohl ein Landjäger im «Beau Séjour» auftaucht und dem Wirt eine Busse wegen nächtlicher Ruhestörung aufbrummt – es sei abends zu lange getanzt, gefeiert und gesungen worden –, bleiben die Polit-Aktivisten unerkannt und das Geheimtreffen fliegt nicht auf.

«Proletarier!», wird es schliesslich in ihrem «Zimmerwalder Manifest» kämpferisch heissen. «Seit Ausbruch des Krieges habt ihr eure Tatkraft in den Dienst der herrschenden Klassen gestellt. Nun gilt es für die eigene Sache, für die heiligen Ziele des Sozialismus, für die Erlösung (…) der geknechteten Klassen einzutreten durch den unversöhnlichen proletarischen Klassenkampf. (…) Über die Grenzen, über  die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg rufen wir euch zu: Proletarier aller Länder vereinigt euch!»

Zwei Wochen später, als die Gäste aus dem Ausland längst wieder abgereist sind, berichtet der Organisator, Robert Grimm, in der Zeitung «Berner Tagwacht» über die konspirative Zusammenkunft und druckt das Manifest ab. Die politische Schweiz ist wie vor den Kopf gestossen. Man hat sich übertölpeln lassen. «Wahrscheinlich wurde dieses historische Ereignis hierzulande später auch deshalb so radikal verdrängt», sagt Frithjof Benjamin Schenk, Professor für Osteuropäische Geschichte und Leiter des Departements Geschichte an der Universität Basel.

Über konkrete Massnahmen gegen den Krieg schweigt sich das Manifest aus. «Es ist Ausdruck eines politischen Kompromisses», erläutert Schenk. Eine kleine Gruppierung um Lenin verfolgte auf der Konferenz noch radikalere Ziele. Ihr war das Manifest zu allgemein formuliert. Sie wollte konkrete Mittel des Klassenkampfes benennen und damit eine proletarische Revolution entfachen – weltweit. 1917 wird diese radikale Strategie zumindest in Russland aufgehen. «Ins Manifest von Zimmerwald wurde Lenins Plan nicht aufgenommen », sagt Schenk. «Und dennoch verklärten die Bolschewiki Zimmerwald später zu einem mythischen Gründungsort ihres Staates.» Zu einer Art Rütli der Sowjetunion.

Verdrängtes Erbe

«In der gesamten sozialistischen Welt lernte in der Schule jedes Kind über Zimmerwald», erläutert der Wissenschaftler. Auf manchen sowjetischen Weltkarten war auf dem Gebiet der Schweiz ausschliesslich dieses Dorf namentlich gekennzeichnet. «In der Schweiz hingegen – und insbesondere in Zimmerwald selbst – tat man sich mit dem Erbe von 1915 lange sehr schwer.»

Hundert Jahre nach der Konferenz interessieren sich Schenk und seine Kolleginnen und Kollegen nicht nur für das Ereignis und seine historische Bedeutung, sondern auch für dessen kurioses Nachleben in Ost und West. Bereits vor einigen Jahren erreichte das Departement Geschichte der Universität Basel ein Anruf aus der Gemeindekanzlei von Zimmerwald. Der dortige Gemeindeschreiber war auf einen Ordner mit alten Schriftstücken gestossen und unsicher, was mit diesem zu geschehen habe. Gewissenhaft erkundigte er sich, ob die Unterlagen für die Wissenschaft von Interesse sein könnten.

Die Osteuropa-Historikerin Julia Richers, mittlerweile Professorin in Bern, sichtete das Material – und stiess auf eine Flut faszinierender Briefe und Postkarten, die Menschen aus der Sowjetunion nach Zimmerwald geschrieben hatten: zum Beispiel an den «Direktor des Lenin-Museums». Dabei lag den Zimmerwaldern nichts ferner, als ein solches Museum zu errichten. «Insbesondere nach dem Landesstreik von 1918 herrschte in der Schweiz eine dezidiert antikommunistische Grundstimmung», sagt Schenk.

In den meisten Zuschriften geht es um Lenin. Zimmerwald-Fans aus dem heutigen St. Petersburg schicken Grüsse aus dem «sowjetischen in das schweizerische Leningrad». Das Arbeiterkollektiv eines Salzbergwerks in der Ostukraine schreibt: «Wir möchten wissen, wie in Ihrer Stadt die Erinnerung an diesen grossen Menschen weiterlebt.»

Die Gemeindekanzlei schickt belehrende Briefe zurück: Mit «kommunistischen Umtrieben» wolle man hier in der Schweiz nichts zu tun haben. Und auf «sozialistische Grüsse» wird aus Zimmerwald demonstrativ mit «demokratischen Grüssen» geantwortet. Als 1945 ein Geschichts-Fan aus Lausanne um Informationen zur Zimmerwalder-Konferenz bittet, platzt dem Gemeindeschreiber der Kragen. «Ich bin nicht geneigt, einem politischen Extremisten Material zu beschaffen, welches einer staatsfeindlichen Organisation Dienste leisten könnte», blafft er den Mann an.

Mitte der 1950er Jahre – nach dem Tod Stalins – wächst in der UdSSR die Bedeutung des Lenin-Kultes. Wegen Lenins Beteiligung an der Konferenz von 1915 erhält Zimmerwald in der Sowjetunion «eine fast mythische Bedeutung», so Schenk. Und die Gemeinde reagiert: 1962 wird ein absurder Passus zum «Schutz des gesunden Wohnens» ins Zimmerwalder Baureglement aufgenommen, der jegliche Gedenksteine und -tafeln verbietet. Auf ewige Zeiten soll nichts an die «Kommunisten- Konferenz» erinnern.

Drei Jahre darauf, zum 50. Jahrestag, organisieren rechts-bürgerliche Kräfte die «Zweite Zimmerwalder Konferenz» als antikommunistischen Gedenkanlass. 1971 der nächste Schritt: Die Gemeinde lässt das Gebäude, in dem Lenin während der Konferenz nächtigte – im Volksmund längst «Lenin-Haus» genannt, – abreissen.

«Erst in den 1990er-Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, entspannt sich auch in Zimmerwald die Situation», berichtet Schenk. Zur 700-Jahr-Feier des Dorfes erinnert man 1996 mit festlichen Umzügen nicht mehr nur an die keltische Vergangenheit und das bäuerliche Leben der Gegenwart. Auch ein Kostümierter mit Glatze und markantem Bocksbärtchen tritt auf: eine Lenin-Parodie. Der berühmte Revolutionär ist nun kein Schreckgespenst mehr – sondern hat, mit Augenzwinkern, seinen Platz in der Dorfgeschichte gefunden.

Benjamin Schenk faszinieren solche Verschiebungen und Neubewertungen von historischen Ereignissen und Protagonisten. Auf einer internationalen Tagung anlässlich des 100. Jahrestages der Zimmerwalder Konferenz, die er Anfang September 2015 gemeinsam mit Julia Richers veranstaltete, wurden Erinnerungsorte des Kommunismus und Sozialismus in Europa in vergleichender Perspektive beleuchtet. Dabei ging es zum Beispiel auch um die Kommerzialisierung des Gedenkens: etwa in Museen in Deutschland, die eine verniedlichte Version des Lebens in der DDR zeigen – und Souvenirs verkaufen. Andere Referenten behandelten die wechselhafte Geschichte der Lenin- Denkmäler in der Ukraine und Russland.

Eine Exkursion nach Zimmerwald rundete die Tagung ab. Dort fiel den Wissenschaftlern aus 16 Ländern eine weitere Kuriosität auf: An der Stelle des ehemaligen «Lenin-Hauses» steht in diesem Dorf bis heute kein Gedenkstein – sondern die Filiale einer Bank.


 

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