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Heime als Hüter der Norm

Ein Junge beim Schweissen
In den Heimen hatten männliche Jugendliche die Möglichkeit, eine handwerkliche Ausbildung zu machen, so auch im Landheim Erlenhof in Reinach BL. (Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-4209 1; Foto: Hans Bertolf)

Welche Wertvorstellungen führen ab 1945 dazu, dass Jugendliche in der Region Basel ins Heim müssen? Damit befasst sich ein Dissertationsprojekt an der Universität Basel. Es arbeitet die Geschichte auf und will so auch Lehren aus der Vergangenheit für heute ermöglichen.

04. August 2021

Ein Junge beim Schweissen
In den Heimen hatten männliche Jugendliche die Möglichkeit, eine handwerkliche Ausbildung zu machen, so auch im Landheim Erlenhof in Reinach BL. (Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1013 1-4209 1; Foto: Hans Bertolf)

Es ist noch wenig bekannt über dieses Kapitel in der Geschichte der beiden Basler Halbkantone: die Heimunterbringung von Jugendlichen nach 1945. Miriam Baumeister hat sich diese institutionelle Fürsorge in ihrer Dissertation am Departement Geschichte der Universität Basel zum Thema gemacht.

«Ich habe mich immer schon mehr für Themen interessiert, die in der Geschichtsschreibung nicht so präsent sind. Der ‹kleine Mann›, die ‹kleine Frau› interessieren mich mehr als die grossen Männer und Schlachten», erklärt Miriam Baumeister ihre Motivation, sich diesem Thema zu widmen. Die Historikerin fokussiert dabei auf je eine Einrichtung im Kanton Basel-Stadt und im Kanton Basel-Landschaft.

Das System nachvollziehen

Fragen der sozialen Gerechtigkeit beschäftigen sie bereits seit Langem. Im Studium spezialisierte sie sich auf Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und führte für ihre Masterarbeit Gespräche mit Menschen, die als Kinder im Basler Waisenhaus gelebt haben.

Für ihr Dissertationsprojekt «Lokalität und Translokalität der Fürsorge – Heimplatzierungen von Jugendlichen in den beiden Basel im 20. Jahrhundert» steht hingegen das Aktenstudium im Mittelpunkt. Zusätzliche Interviews würden den Rahmen sprengen, so Miriam Baumeister. Zudem sei es schwierig, diese Menschen überhaupt zu erreichen: Es gibt Schutzfristen und die Auflagen zum Datenschutz sind streng.

Die Ergebnisse ihrer Untersuchung sollen «eine Forschungslücke schliessen», wie Miriam Baumeister sagt. «Es gibt viele noch lebende Betroffene, die wissen wollen, wie das System hinter den Heimplatzierungen funktionierte und warum sie weg mussten von zu Hause. Es hilft ihnen, wenn die Geschichte aufgearbeitet wird, die auch ihre eigene ist.»

Zurück auf den richtigen Weg

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es für die Platzierung von Jugendlichen mehr Einrichtungen im Kanton Basel-Stadt als in Baselland. Neben den staatlichen Organisationen sind auch private wichtig, etwa Vereine, oftmals mit einem christlichen Hintergrund. «Dieser sogenannte «welfare mix» aus privater und staatlicher Fürsorge ist typisch für die Schweiz», so Baumeister.

Sie konzentriert sich auf die Klientenakten von rund 150 Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren in je einer Institution pro Halbkanton – auf das Basler Jugendheim und auf die Birmann-Stiftung in Liestal, die es bis heute gibt. «Beide haben auch Jugendliche an Pflegefamilien vermittelt, ich beschränke mich aber auf Unterbringungen in Heimen», so die Doktorandin.

Solche Einrichtungen, die Jugendliche wieder auf den «richtigen Weg» bringen sollten, gab es sowohl für Mädchen und junge Frauen als auch für männliche Jugendliche. «Junge Männer fielen eher auf», weiss Baumeister, «für sie gab es entsprechend mehr Einrichtungen.» Während bei den Mädchen zum Beispiel mit der «Liederlichkeit» moralische Kriterien zur Anwendung kamen, wurde bei den Männern unter anderem das Aggressionspotenzial berücksichtigt.

«Generell ist vieles, was über die Jugendlichen in den Akten steht, sehr normativ», so Baumeister: Der Kontakt zu Homosexuellen war ebenso stossend wie lange Haare oder das Tragen von Jeans oder bunten Hemden. Auch Charakterzuschreibungen wie «schwächlich», «schlaff» oder «arbeitsscheu» tauchen in den Gutachten auf.

Arbeit muss sein

An Möglichkeiten zu arbeiten, mangelte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht: In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg gab es genügend offene Stellen. «Umso mehr wurde ein stabiles Arbeitsverhalten erwartet», so Baumeister – auch ohne Ausbildung. Obschon eine Berufslehre auch damals begrüssenswert war.

Endsprechend wenig Verständnis war vorhanden, wenn jemand zu lange nach dem Schulaustritt nicht sinnvoll beschäftigt war. «Arbeitet nicht» oder «mehrfach fortgelaufen von Stellen» sind entsprechend häufig festgehaltene Begründungen für eine Platzierung im Heim, wo die nicht geglückte Integration in die Arbeitswelt nachgeholt werden sollte. Hierbei galt ein strukturierter Tagesablauf als förderlich. «Es wurden also viele Ämtli und Arbeiten verteilt», sagt Miriam Baumeister.

Stereotype Berufsbildung

Die Heime boten auch Ausbildungen an. Die Optionen waren jedoch beschränkt und folgten den gängigen Geschlechterstereotypen: Für die Männer standen handwerkliche Berufe zur Auswahl, in ländlichen Regionen auch die Landwirtschaft. Frauen hatten die Wahl zwischen Haushalt, Schneidern, Handarbeiten und dergleichen.

«In Heimen mit kleinen Kindern konnten sie auch in der Kinderpflege mithelfen. Das war aber eher eine Beschäftigung und wohl auch mehr eine willkommene Unterstützung für die Betreuerinnen als eine tatsächliche Ausbildung», berichtet die Historikerin. Und sie betont: «Nicht jeder, der aus dem Rahmen fiel, musste ins Heim. Wer einen familiären Rückhalt hatte, lief weniger Gefahr, platziert zu werden.»

Zwischen Straf- und Zivilrecht

Die gesellschaftlichen Tendenzen und geltenden Normen in der Stadt und auf dem Land waren grundsätzlich gleich – «auf dem Land war man sicher etwas konservativer», sagt Miriam Baumeister. Auf der anderen Seite habe man wohl länger probiert, jemanden zu integrieren, als in der Stadt. «Bei insgesamt weniger Leuten verträgt es einen ‹Abweichler› vielleicht eher als in der Stadt, wo man die ‹Bildung eines Problemumfelds› frühzeitig unterbinden wollte», sagt die Forscherin. Auch sonst war man sich auf dem Land näher: Bis 2013 waren die meisten Gemeinderäte gleichzeitig die Vormundschaftsbehörde. In der Stadt Basel fand hingegen früher eine Professionalisierung statt: Die 1912 eingerichtete Vormundschaftsbehörde war zuständig für die Vormundschaften und Beistandschaften.

Die Platzierungen bewegen sich an der Grenze zwischen straf- und zivilrechtlichen Beweggründen. «Bei ersteren ging es darum, eine Straftat zu sanktionieren. Letztere bezogen sich auf soziale Ursachen und so war immer wieder auch Willkür im Spiel», sagt Miriam Baumeister. Diese Grauzone interessiert sie: Was ist delinquent? Wo ist die Grenze zwischen rechtmässig und unrechtmässig? Was bedeutet schuldig beziehungsweise unschuldig? «Es lohnt sich, dort hinzuschauen. Daraus kann man Lehren ziehen, was man heute besser machen kann», ist sie überzeugt.

Teil eines nationalen Forschungsprogramms

Miriam Baumeister ist Mitglied der Basel Graduate School of History (BGSH) der Universität Basel und war von 2018 bis 2021 Projektmitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Ihre Dissertation ist Teil des Forschungsprojekts «Adolescent in care and the acquisition of human and social capital: a comparative study of opportunities and achievements in four Swiss cantons (1950-1985)», das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 76 «Fürsorge und Zwang» des Schweizerischen Nationalfonds entsteht. Das Projekt untersucht die Lebenswege von fremdplatzierten Jugendlichen zwischen 1950 und 1985 in den Kantonen Freiburg, Neuenburg, Luzern, Basel-Landschaft und Basel-Stadt. Die vergleichende Studie, aus der unter anderem zwei Dissertationen entstehen, stützt sich auf Archivmaterial sowie Interviews mit Betroffenen und zeigt übergeordnete Mechanismen und Rahmenbedingungen der sozialen und beruflichen Integration von Jugendlichen auf.

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