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«Die Herbstwelle hat bereits begonnen»

Prof. Dr. Richard Neher.
Prof. Dr. Richard Neher. (Foto: Matthew Lee / Biozentrum, Universität Basel)

Wie sieht die Corona-Prognose für die kommenden Wochen aus? Prof. Dr. Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel forscht seit Beginn der Pandemie am Coronavirus Sars-CoV-2. Im Gespräch gibt er Antworten auf ein paar drängende Fragen.

04. Oktober 2022 | Heike Sacher

Prof. Dr. Richard Neher.
Prof. Dr. Richard Neher. (Foto: Matthew Lee / Biozentrum, Universität Basel)

Herr Neher, seit es Corona gibt, haben wir Interviews mit Ihnen immer mit Maske geführt. Heute das erst Mal ohne, bleibt das so?

Richard Neher: Wenn die Fallzahlen wieder ansteigen, ist es sicher sinnvoll in manchen Situationen wieder Masken zu tragen, durchaus auch freiwillig. Dies verhindert nicht nur Ansteckungen mit dem Coronavirus, sondern reduziert auch das Risiko einer Grippe. Dass es jetzt wieder zu einem Anstieg an Infektionen kommt, war zu erwarten.

Wie viele Varianten des Coronavirus kursieren derzeit weltweit? Und wie viele davon verfolgen Sie mit Nextstrain?

Es gibt im Moment sehr viele, oft seltene Varianten des Coronavirus. Und viele werden gar nicht sequenziert. Wie viele es genau sind, wissen wir nicht. Wir verfolgen derzeit einige Dutzend. Unser Hauptaugenmerk liegt dabei auf verschiedenen Varianten aus der Omikronfamilie, insbesondere Untervarianten von BA.2 und BA.5.

Warum ausgerechnet diese beiden?

BA.5 war hier im Sommer die dominierende Variante und hat zu einer hohen Anzahl an Infektionen geführt. Sie hat im Frühjahr bei uns die dominierende Variante BA.2 verdrängt. In Südasien gab es hingegen kaum BA.5. Hier zirkulierte vor allem BA.2. Sowohl BA.2 als auch BA.5 haben sich mittlerweile weiterentwickelt und viele Untervarianten gebildet, die zum Teil weniger gut von Antikörpern erkannt werden. Diese alle haben das Potenzial, eine neue Welle auszulösen. Andere Varianten, wie zum Beispiel BA.1 oder Delta, treten nur noch sporadisch auf.

Welche Varianten sind diesen Herbst im Umlauf?

Die Kandidaten, die uns im Hinblick auf den Herbst derzeit am meisten Sorgen machen, sind BA.2.75.2 und BQ.1.1. Erstere Untervariante hat sich sehr weit von der ursprünglichen BA.2-Variante wegentwickelt. Sie weist vor allem Veränderungen an Positionen auf, die für die Antikörperbindung wichtig sind. Neue Daten deuten darauf hin, dass sie die Immunantwort von Menschen, die in den letzten Monaten eine BA.5 Infektion hatten, unterlaufen kann. Auch BQ.1.1, eine Untervariante von BA.5, hat sich in sehr ähnlicher Weise wie BA.2.75.2 entwickelt und wird von Antikörpern weniger gut erkannt. Beide sind Momentan bei uns noch selten, nehmen aber an Häufigkeit zu.

Bedeutet das zurück auf Anfang für uns?

Nein, ein zurück auf Start gibt es nicht mehr. Inzwischen sind fast alle Menschen geimpft oder haben sich mit dem Virus infiziert. Es gibt also kaum noch immun-naive Menschen bei uns. Diese Grundimmunität schützt zwar nicht vollständig vor Infektion, aber unser Immunsystem kann sehr viel schneller eine geeignete Antwort auf die Infektion finden und das Virus bekämpfen. Schwere Verläufe sind daher viel seltener als zu Beginn der Pandemie.

Wie schaut Ihre Prognose aus?

Die Fallzahlen haben gerade begonnen wieder zuzunehmen. Die Herbstwelle hat also bereits begonnen. Im Moment rechnen wir damit, dass sich dieser Anstieg in den nächsten zwei Monaten fortsetzt. Wann genau und welche Variante das Rennen macht, ist noch nicht ganz klar. Aber es ist wahrscheinlich, dass die immun-evasiven Subvarianten die Welle später im Herbst weiter anheizen. Wichtig wird vor allem sein, wie hoch die Welle wird und wie viele Menschen gleichzeitig medizinische Hilfe benötigen.

Für den Winter müssen wir uns also keine Sorgen machen?

Jedenfalls sehr viel weniger als noch zu Beginn der Pandemie. Aber grosse Wellen, bei denen sich viele Menschen infizieren, bleiben natürlich weiterhin eine Belastung für das Gesundheitssystem und die Gesellschaft. Für Risikogruppen und ältere Menschen bleibt das Virus weiterhin gefährlich. Darüber hinaus besteht das Risiko von Langzeitfolgen auch bei milden Verläufen.

Wie sinnvoll ist eine Maskenpflicht im Herbst?

Masken zu tragen, wenn die Fallzahlen hoch sind, hilft auf jeden Fall Ansteckungen zu verhindern, vor allem dort, wo viele Menschen in Innenräumen zusammenkommen. Dies ist insbesondere für Risikogruppen wichtig. Aber ich bin nicht sehr optimistisch, dass sich allein dadurch die Zirkulation deutlich reduzieren lässt. Denn dort, wo das Übertragungsrisiko am grössten ist, bei geselligen Veranstaltungen zum Beispiel oder im Privaten, ist Maskentragen schwer möglich.

Welche Massnahme ist aus Ihrer Sicht entscheidend?

Tatsächlich sind es die Impfungen, die uns aus dieser Pandemie geführt haben. Und sie werden auch eine wichtige Massnahme bleiben, um schwere Fälle im Herbst und Winter zu verhindern.

Mittlerweile gibt es neue Impfstoffe. Was ist bei diesen anders als bei den bisherigen?

Die neuen Impfstoffe, die bei uns schon jetzt oder bald auf dem Markt sind, sind sogenannte bivalente Impfstoffe. Sie enthalten die ursprüngliche Variante sowie zusätzlich eine Variante aus der Omikronfamilie. Der erste bivalente Impfstoff enthält die BA.1-Variante, die die erste Omikron-Welle erzeugt hat. Es gibt auch einen bivalenten Impfstoff mit der BA.5-Variante. Dieser ist in den USA und einigen Teilen Europas schon jetzt verfügbar.

Hat man beim neuen Impfstoff mit BA.1 auf das falsche Pferd gesetzt?

Das kann man so nicht sagen. Man hat auf die Variante gesetzt, die zu dem damaligen Zeitpunkt dominant war. Und tatsächlich ist BA.1 auch immer noch die Variante, die mit ihren Mutationen im Spike-Protein am weitesten von dem ursprünglichen Virus entfernt ist. Der neue Kombi-Impfstoff frischt die bisherigen Impfungen auf und führt zu einer verbreiterten Immunantwort. Dadurch erkennt unser Immunsystem ein grösseres Spektrum an Varianten.

Durchlaufen die angepassten Impfstoffe dieselben Testphasen wie die alten?

Die bivalenten Impfstoffe mit BA.1 wurden ebenfalls in Studien mit Menschen getestet, so wie der bisherige Impfstoff. Anders ist es beim Impfstoff mit der bei uns vorherrschenden BA.5-Variante. Dieser Impfstoff durchlief keine Studien mit Menschen, da dies vor dem Herbst zeitlich nicht möglich gewesen wäre. Bei den mRNA-Impfstoffen müssen aber nur ein paar Basen verändert werden, um die Impfung an neue Varianten anzupassen. Bei der Grippeimpfung macht man Anpassungen schon seit Jahrzehnten ohne erneute Studien am Menschen. Durch das schnellere Prozedere können wir dafür in Zukunft schneller auf Veränderungen im Virus reagieren.

Nextstrain

Richard Neher entwickelte Nextstrain (nextstrain.org) 2015 zusammen mit seinem Kollegen Trevor Bedford vom Fred-Hutchinson-Krebsforschungszentrum. Die Idee dazu geht auf die Erforschung von Grippeviren zurück. Die beiden Forscher wollten herausfinden, inwiefern sich die Evolution von Viren vorhersagen lässt. Gerade für Grippe ist dies ein wichtiger Aspekt, denn jedes Jahr muss ein neuer Impfstoff entwickeln werden.

Eine Vorhersage ist daher von grosser Bedeutung. Mit Nextstrain lassen sich Evolution und Verbreitung verschiedener Viren analysieren, sei es Corona, Grippe, Dengue, Zika oder Ebola. Weltweit verwenden Epidemiologen, Virologen und Gesundheitsexperten dieses Tool, um fast in Echtzeit zu sehen, wie die Krankheitserreger sich verändern und ausbreiten.

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