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Rund um den Mund. (01/2025)

Mit vollem Mund spricht man doch.

Text: Yvonne Vahlensieck

Kommunikation findet nicht nur über das Gesagte statt. Gerade beim Verkosten von Lebensmitteln in Gesellschaft teilen wir uns auch anders mit.

Collage einer offenbar stark lachenden Frau mit einem nur leicht lächelnden Mund
(Collage: SUAN Conceptual Design GmbH)

Der Mund spielt bei sozialen Interaktionen eine wichtige Rolle, die weit über das Sprechen hinausgeht. Das rückte während der Covid-19-Pandemie besonders ins Bewusstsein: Wenn die Lippen hinter einer Maske verborgen sind, versteht man zwar die Worte, doch die richtige Interpretation fällt manchmal schwer. War die komische Bemerkung jetzt lustig oder vielleicht doch ernst gemeint? Übermittelt die Ärztin gerade eine positive oder eine negative Nachricht? Ist der Lehrer heute gut oder schlecht gelaunt? Ohne zusätzliche visuelle Informationen wie ein Lächeln oder verkniffene Lippen ist es nicht immer einfach, die Situation richtig einzuschätzen.

Deshalb untersucht die Linguistin Lorenza Mondada an der Universität Basel nicht nur die Worte, die den Mund verlassen, sondern auch alles drumherum. «Man kann Sprache nicht isoliert betrachten», sagt sie. «Sie geht mit Mimik, Gestik und anderen Körperbewegungen einher.» Ihre Forschung betreibt sie daher auch nicht im Labor, sondern in vielfältigen Kontexten des gesellschaftlichen Lebens, unter realistischen Bedingungen. «Es ist, als würde man Tiere nicht im Zoo beobachten, sondern in der freien Wildbahn.»

Wie sie das macht: Mit ihrem Team filmt sie Menschen in alltäglichen Situationen − am Arbeitsplatz, beim Einkaufen, beim Abendessen − und wertet die Videos minutiös aus. Die Forschenden analysieren nicht nur, wer was sagt, sondern auch jede Bewegung, jedes Lachen, jeden Blick. Denn all dies trägt zur Intersubjektivität – also zur Verständigung zwischen den Gesprächsteilnehmern − bei.

Durch solche Studien hat Mondada schon einiges darüber herausgefunden, wie es Menschen hinkriegen, sich in unterschiedlichen sozialen Situationen und Kulturen zu verstehen. Zum Beispiel kann Mondada beim Betrachten der Videos genau vorhersagen, welche Person als Nächstes sprechen möchte. Denn das verrät der Mund. «Schon bevor wir anfangen zu reden, öffnen sich die Lippen und wir atmen durch. Dies signalisiert dem Umfeld, dass man jetzt bereit ist, etwas zu sagen.»

Wie die Analyse weiterhin zeigt, registrieren die Gesprächspartner diese unausgesprochene Projektion und können schon früh darauf antworten – zum Beispiel, indem sie die Person zum Sprechen ermutigen oder aber sie absichtlich nicht zu Wort kommen lassen. «Ob bewusst oder unbewusst, Menschen erkennen solche subtilen Signale und nutzen das oft auch strategisch», sagt Mondada.

Der Mund im Mittelpunkt.

Ein besonderes Augenmerk der Sprachwissenschaftlerin gilt den Interaktionen von Menschen beim Essen und Trinken. «Das sind bedeutsame soziale und kulturelle Aktivitäten, die von der Linguistik lange Zeit ignoriert wurden, auch wenn sie dem Studium der Sprache dienen können.»

Gerade in diesen Situationen ist der Mund auf vielfältige Weise involviert: Schlürfen, nippen, kauen, schlucken, schmecken, eine Bewertung abgeben, eine Zutat identifizieren – all diese Aufgaben muss er erfüllen, wenn auch nicht immer gleichzeitig. Normalerweise schliessen sich Essen und Reden gegenseitig aus; daher erfolgt das Essen oder Trinken kurz vor oder nach dem Sprechen. Dies erfordert ein feines Zeitmanagement. Die anderen am Tisch können dadurch auch antizipieren, wer wann etwas sagen wird. «Ein voller Mund darf ja eigentlich nicht sprechen, und trotzdem sagt er viel», so Mondada.

Wie sie beispielsweise zeigen konnte, nimmt der Mund beim Essen je nach sozialem Kontext verschiedene Rollen ein. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen einem Abendessen im Familienkreis, einem Dinner im Gourmetrestaurant oder einer Verkostung von Delikatessen. Während bei einem gewöhnlichen Mittagessen die Aufmerksamkeit auf den Gesprächsthemen liegt und nicht auf dem, was gegessen wird, konzentriert man sich bei einem Gourmetessen viel mehr auf die Geschmackswahrnehmung und tauscht sich darüber aus.

Völlig in den Fokus rückt der Mund dann beim Verkosten von Spezialitäten. Dies wies Mondada unter anderem durch eine Studie in Delikatessenläden in fünfzehn europäischen Ländern in zwölf verschiedenen Sprachen nach. Sie filmte dort immer die gleiche Interaktion: Das Personal bietet einer Kundin oder einem Kunden ein kleines Stückchen Käse zum Probieren an. Ihre Analyse belegt, dass eine solche Verkostung systematisch nach dem gleichen Muster abläuft: Während des Probierens herrscht einhelliges Schweigen. Der Verkoster übertreibt die Kaubewegungen, exploriert mit der Zunge die Backen, schleckt über die Lippen. Die ganze Aufmerksamkeit ist auf das sensorische Erlebnis fokussiert, das gerade in der Mundhöhle stattfindet.

Jenseits der Worte.

Erst wenn der letzte Krümel heruntergeschluckt ist, bewegt sich der restliche Körper wieder. Und dann ist auch der Mund wieder zum Sprechen freigegeben: Es erfolgt eine Bewertung und Beschreibung des Geschmacks. «Während bei einem normalen Essen eigentlich privat ist, was gerade im Mund abläuft, ist das Verkosten gewissermassen ein öffentliches Ereignis, das zur sozialen Interaktion beiträgt», so Mondada.

Solche Erkenntnisse bestätigen, dass die linguistische Forschung viel verpasst, wenn sie sich nur mit der Analyse von Worten und Gesprächen beschäftigt. Entscheidend für eine erfolgreiche Verständigung zwischen Menschen ist eben noch viel mehr: das richtige Timing, die Interpretation von subtilen Körperbewegungen und der Einbezug aller Sinne. Der Mund mit seinen vielfältigen Funktionen und Ausdrucksmöglichkeiten ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel.


Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (Mai 2025).

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