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Rund um den Mund. (01/2025)

Gesungene Nachrichten.

Text: Noëmi Kern

Bevor es Massenmedien gab, war die Stimme ein wichtiges Mittel, um Neuigkeiten zu verbreiten. Ein Forschungsprojekt untersucht die mündliche Kultur der Frühen Neuzeit.

Collage einer Frau mit singendem Mund und Discokugel
(Collage: SUAN Conceptual Design GmbH)

Möglichst laut, besonders originell oder relevant: Wer Aufmerksamkeit erregen will, muss sich etwas einfallen lassen. Das wissen Influencerinnen und Journalisten nur zu gut. Das gilt nicht erst, seit News und Content rund um die Uhr in schier unendlicher Vielfalt verfügbar sind. Schon in der Frühen Neuzeit, zwischen 1600 und 1800, gaben Strassensängerinnen und -sänger lauthals Lieder zum Besten, die von aktuellen Geschehnissen berichteten.

«Lieder waren zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert eines der beliebtesten Nachrichtenmedien in Europa», weiss Jan-Friedrich Missfelder. Er ist Professor für Geschichte und leitet das Forschungsprojekt «Die Macht der Stimme. Die Vokalität von Politik und Medien in der Frühen Neuzeit».

Liken, teilen, reposten.

Selbstredend gibt es aus jener Zeit keine Tondokumente, die das belegen. Missfelder und seine Mitforschenden müssen also anders rekonstruieren, wie die Stimme damals zum Einsatz kam. Zeitgenössische Illustrationen und Beschreibungen zeigen aber, dass die Strassensängerinnen und -sänger die Nachrichtenlieder einerseits selber vortrugen und andererseits die Textbüchlein dazu verkauften. So erfuhren die Leute, was in der Nähe, aber auch anderswo passiert war, und wer wollte, konnte die Texte erwerben und selber nachsingen – nach Social-Media-Terminologie gewissermassen reposten.

Diese sogenannten Liedflugschriften kamen ab 1500 auf. Voraussetzung dafür war die Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts – ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Massenmedien. Nun liessen sich Nachrichten wie Flugblätter oder Zeitungen viel einfacher produzieren und mehr Menschen zugänglich machen. Dennoch blieb die Mündlichkeit wichtig für das Weiterbreiten von Neuigkeiten. «Die frühneuzeitliche Medienwelt war durch und durch vokal», so der Historiker.

Die Nachrichtenlieder folgten keinem künstlerischen Anspruch, sondern waren zur Information und zur Unterhaltung gedacht. Auf dem Deckblatt war jeweils die entsprechende Melodie vermerkt, zum Beispiel «Wie man den Wilhelm Tell singt». Damit konnten die Leute offenbar etwas anfangen, Musiknoten brauchten sie nicht. «Es gab ein regelrechtes Best-of an Melodien, die vielen Menschen bekannt waren. Zusammen mit den gedruckten Texten erleichterte dies die Reproduktion und folglich die Verbreitung der Inhalte», erläutert Missfelder. So konnte jede und jeder zur Multiplikatorin oder zum Multiplikator werden.

Sensationslust und Politik.

So fanden die Lieder bisweilen auch überregionale Verbreitung, wie etwa der Bericht über ein Tötungsdelikt in Basel im Jahr 1565. Die Schrift wurde auch in Dresden gedruckt. Das Lied umfasste knapp 60 Strophen, deren Vortrag rund 45 Minuten gedauert haben dürfte. Ob sich das heute noch jemand anhören würde? Gut möglich. Denn «True Crime»-Formate erfreuen sich seit Jahren grosser Beliebtheit.

Auch die Liedflugschriften dienten nicht nur der Information, sondern auch der Unterhaltung. Neben Mordgeschichten zählten auch Naturkatastrophen und Wundergeschichten zu Blutregen oder Kometensichtungen zu den thematischen Favoriten. «Bei solchen Geschichten ging es nicht allein um die Nachricht, sie hatten exemplarischen Charakter und wurden meist mit einer Moral verknüpft. Naturkatastrophen wurden als göttliche Zeichen verstanden», sagt Jan-Friedrich Missfelder. Die meisten Lieder waren allerdings Nachrichtensongs; sie berichteten über aktuelle Kriegsschauplätze und -handlungen und politische Entwicklungen.

Angst vor Aufruhr.

Nicht selten fühlte sich die Obrigkeit bedroht durch die zirkulierenden Lieder, hatten sie doch das Potenzial politischer Sprengkraft. Entsprechend entschieden versuchte man, die Weiterverbreitung der Inhalte zu stoppen, wie etwa im Luzerner Dorf Eschenbach. Dort kursierte 1712 ein Lied, das der Luzerner Obrigkeit missfiel, weil sie beschuldigt wurde, sie habe im Zweiten Villmerger Krieg gegenüber den reformierten Orten Zürich und Bern zu nachgiebig agiert. Der Luzerner Ratsherr Ludwig Cysat wollte herausfinden, wer die entsprechenden Lieddrucke in Umlauf gebracht und deren Inhalt vorgetragen hatte. Im Verhörprotokoll wird deutlich, dass der Wirt im Dorf hier eine entscheidende Rolle gespielt hatte.

Die Luzerner Obrigkeit versuchte darauf, diese politischen Protestsongs zu unterbinden, indem sie die Drucke konfiszierte und verbrennen liess. So liess sich zwar die Weiterverbreitung der Schrift verhindern, die Stimmen brachte man damit aber nicht zum Schweigen. «Das unterstreicht die Wirkungsmacht, die die Stimme in der frühneuzeitlichen Gesellschaft hatte», sagt Missfelder.

Infotainment und Nähe.

Und heute? Mit Blick auf unsere heutige stark digitalisierte Welt stellt er fest, dass Mündlichkeit wieder vermehrt eine Rolle spielt. Podcasts und Hörbücher als akustisches Infotainment sind beliebt, und Sprachnachrichten ersetzen die getippte Nachricht als Kommunikationsmittel. «Das hat zum einen sicher mit dem Bedürfnis nach Effizienz zu tun: Während wir hören, können wir nebenbei etwas anderes machen. Der unmittelbare Charakter der Stimme stellt aber auch Präsenz her und erzeugt so ein Gefühl der Nähe – auch wenn wir zeitlich und räumlich voneinander getrennt sind», sagt Jan-Friedrich Missfelder.


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