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Alles Lüge! (01/2024)

Diffamiert und ausgegrenzt.

Interview: Noëmi Kern

«Die Juden» werden seit Jahrhunderten für Unheil verantwortlich gemacht. Woher kommen diese Verleumdungen? Und wie lässt sich Antisemitismus bekämpfen? Ein Gespräch mit Historiker Erik Petry.

Mann mit Kippa
Jüdinnen und Juden sind Mitglieder der Gesellschaft und gehören nach Auffassung von Antisemitinnen und Antisemiten doch nicht richtig dazu. (Foto: Adobe Stock)

UNI NOVA: Herr Petry, Sie forschen zur Geschichte des Antisemitismus. Wie entstand diese Ablehnung gegen die Juden?

Erik Petry: Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen, etwa infolge territorialer Ansprüche, gab es bereits in der Antike. Doch mit der Entstehung des Christentums spielt eine neue Komponente rein: eine abgrundtiefe Ablehnung des Judentums als Religion.

Legenden, die Juden verunglimpfen, lassen sich widerlegen (vgl. Kontextbox unten). Warum halten sie sich trotzdem und es entstehen sogar neue?

Die manifeste Ablehnung einer Gruppe in der Gesellschaft führt zu dieser Kontinuität. Es steckt mehr dahinter als einfach nur, dass man sauer auf jemanden ist. Wir haben im Antisemitismus häufig das Phänomen, dass Leute sagen «Die Juden sind ganz schlimm. Aber ich kenne einen, der ist nicht so.» Doch diese «Einzelfälle» führen nicht zur Änderung der allgemeinen Meinung über Juden und Jüdinnen.

Weshalb nicht?

Ein wichtiges Motiv ist, dass man davon ausgeht, dass Juden und Jüdinnen nicht wirklich zur Gesellschaft gehören. Ich erkläre es am Beispiel eines Kreises: Der Kreis ist die Gesellschaft. Die Juden sind innerhalb dieses Kreises, sie sind Teil der Gesellschaft, agieren, sind Mitglieder des ökonomisch-beruflichen Netzwerkes der Gesellschaft. Aber in der Vorstellung der Antisemiten sind sie in einem eigenen Kreis, der an den Rand geschubst ist. Sie gehören in dieser Vorstellung nicht dazu. Wenn eine Gruppe beschliesst, dass manche nicht dazugehören, entwickelt sich daraus schnell: «Die machen doch bestimmt komische Sachen.»

Was macht es mit Jüdinnen und Juden, wenn sie immer wieder bezichtigt werden, Unheil in die Welt zu bringen?

Es gibt zwei Wege des Umgangs. Das sehen wir besonders in den 1930er-Jahren in der Schweiz angesichts der Bedrohungssituation in Deutschland. Eine Reaktion ist: Man muss aktiv dagegen vorgehen, aufstehen und sagen: «Ich bin jüdisch und ihr diffamiert uns, das werden wir nicht zulassen. Wir sind Schweizer Bürgerinnen und Bürger.» Die andere Option ist, sich ganz still zu verhalten, um keinen Antisemitismus zu provozieren. Aber das Zurückhalten nützt nichts. Es geht dadurch eben nicht vorbei. Die antisemitischen Vorwürfe existieren unabhängig vom Verhalten der Juden und Jüdinnen. Ein aktives Hinweisen auf diesen Antisemitismus und das Bekämpfen dieser Vorwürfe scheinen der bessere Weg zu sein.

Wo kommt Antisemitismus bei uns in der Gesellschaft vor?

In den allermeisten Fällen sind sich die Leute der Bilder, die sie verwenden, gar nicht bewusst. Und auch nicht, was sie damit eigentlich tun, wenn sie sie verwenden. Wenn einer sagt: «Die Juden haben immer Geld», dann ist das ganz klar antisemitisch. Denn er schreibt ihnen etwas zu, was stark negativ konnotiert ist. Jemand, der Geld hat, wird komisch angeguckt. Der Kaufmann war schon im Mittelalter immer ein bisschen verdächtig. Er wolle nur ein gutes Geschäft machen. Und dieses Negative wird dann auf die gesamte jüdische Gruppe übertragen.

Gibt es auch positiv konnotierte Stereotype über das Judentum?

Es ist oft zwiespältig. Denn viele Zuschreibungen sind mit einem bestimmten Bild verbunden, das aber die Situation nicht trifft und ganz schnell gedreht werden kann. «Das sind Gemeinschaften, die zusammenhalten» wird zu «die wollen nichts mit uns zu tun haben».

Vorurteile gegenüber anderen gibt es ja immer. Was ist beim Antisemitismus anders?

Da ist einmal eine Vernichtungs- und Erlösungsfantasie, die es in dieser Form im Rassismus nicht gibt. Das erlebt man aktuell im Nahostkonflikt: Wenn dieses Israel da nicht wäre, wäre alles super. Wenn man Rassismus und Antisemitismus zusammenlegt, geht Trennschärfe verloren. Das eine ist auch nicht eine Untergruppe des anderen. Man kann bei der jüdischen Bevölkerung nicht sagen, sie sollen dahingehen, wo sie hergekommen sind, wie das etwa im 19. Jahrhundert geschehen ist. Denn sie sind Teil dieser europäischen Bevölkerung, und trotzdem sind sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt und kommen dort nicht wieder weg. Ich unterscheide in meiner Forschung zwischen fremd und anders. Der Fremde kommt und wird irgendwann ein Eigener. Das sind zum Beispiel Italiener, die in den 50er-Jahren als Gastarbeiter in die Schweiz kamen. Im Antisemitismus sind die Juden die Anderen. Sie werden nicht zu Eigenen.

Braucht es mehr Dialog zwischen jüdischen und nichtjüdischen Personen, um Vorurteile zu überwinden?

Erstmal muss man verstehen, dass der Dialog zwischen der christlichen Mehrheitsgesellschaft und der jüdischen Gesellschaft zumeist nicht auf Augenhöhe stattfindet. Und man muss akzeptieren, dass die jüdische Gruppe möglicherweise erstmal sehr zurückhaltend ist und nicht immer alles toll findet. Das geschieht aus der Erfahrung heraus: Kann ich denen jetzt vertrauen? Ich denke, man muss es wirklich in jeder Generation neu ansprechen und unterrichten, wie Antisemitismus konstruiert und instrumentalisiert wird, was die Gefahren von Antisemitismus für Juden und Jüdinnen und für die ganze Gesellschaft sind und welche Folgen die geschichtlichen Ereignisse hatten.

Verleumdungen auf dem Prüfstand.

Brunnenvergiftungen

Man konnte sich im Mittelalter nicht erklären, woher die Pest kommt. Es entwickelte sich die Vorstellung der Brunnenvergiftung durch die Juden, die die Christen umbringen wollten. Die Jüdinnen und Juden tranken aus denselben Brunnen wie alle anderen. Es gab vielleicht tatsächlich weniger Pesttote unter den Juden. Einerseits waren sie viel weniger Leute. Andererseits gibt es in den Jüdischen Studien die Theorie, dass die jüdischen Reinheitsvorschriften wie Händewaschen vor jedem Essen oder die rituellen Tauchbäder möglicherweise geholfen haben, nicht zu erkranken.

Ritualmordlegende

Sie tauchte Mitte des 12. Jahrhunderts in England auf. Es heisst, die Juden nähmen das Blut ermordeter christlicher Kinder und backten damit die Mazzot zum Pessachfest. Aber erstens ist in den Mazzot kein Blut und zweitens ist im Judentum das Blut der Sitz der Seele. Das kommt nicht ins Essen. Deswegen auch das Schächten: Die Tiere müssen komplett ausbluten, damit man ihr Fleisch essen kann. Befindet sich in einem Ei ein roter Punkt, ist es unrein und es wird nicht verwendet.

Protokolle der Weisen von Zion

Ende des 19. Jahrhunderts kam die Vorstellung auf, das Judetum habe eine Versammlung abgehalten, auf der beschlossen worden sei, wie das Judentum die Weltherrschaft übernehmen würde. Dies sei in den «Protokollen» festgehalten, die als Buch gedruckt wurden. Die Forschung (vor allem der Historiker Michael Hagemeister) konnte zeigen, aus welchen erfundenen Versatzstücken die Protokolle zusammengesetzt wurden. Die vermeintliche Versammlung wie auch die Protokolle dazu sind komplett erfunden. Das Motiv einer jüdischen Weltverschwörung hat sich aber bis heute gehalten. Die Beschuldigung «Die Juden beherrschen die Finanzwelt» gehört zu den heutigen Ausformungen dieser Vorstellung.

Rassenlehre

Aus dem eigentlich linguistischen Begriff der semitischen Sprachen entwickelte die Rassenlehre des 19. Jahrhunderts die Vorstellung, es gebe eine eigene jüdische (semitische) Rasse. Dieser warf man dann einen niederen Charakter und amoralisches Handeln als genuinen Teil des Verhaltens vor. Längst sind die rasentheoretischen Vorstellungen als vollkommen falsch nachgewiesen, doch das Motiv, bestimmte Gruppen würden sich per se (sozusagen aufgrund ihrer DNA) unmoralisch verhalten, ist bis heute Teil der Vorstellung europäischer Gesellschaften. Dies ist ein wichtiges Versatzstück in den antisemitischen Konstrukten.


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