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Hüben und drüben. (02/2023)

Sarah lebt.

Text: Eva Mell

Ein kleines Mädchen fällt in einen kalten Teich. Als ihr Vater sie findet, steht ihr Kreislauf schon still. Die Chancen stehen schlecht, aber im Universitäts-Kinderspital beider Basel geschieht das Unwahrscheinliche.

Arm eines Kindes unter Wasser
Wie eine schwierige Entscheidung das Leben eines kleinen Mädchens rettete. (Foto: unsplash, Tim Marshall)

Es ist Ostermontag. Im Schockraum des Universitätsspitals Basel kämpfen rund 20 Personen um ein zweijähriges Mädchen. Tiefkomatös. Das Kind – nennen wir es Sarah – ist von der Rega mit dem Helikopter hierher gebracht worden. Ihre Körpertemperatur liegt bei 25 Grad Celsius. Als sie gefunden wurde, waren es 23 Grad. Sarah war in einen Teich in ihrem Wohnblock bei Delémont gefallen. Es ist der 5. April 2021, der kälteste April seit vielen Jahrzehnten.

Schwierige Entscheidungen.

Ihre Eltern hatten sie 15 Minuten lang vermisst, ehe der Vater Sarah aus dem Wasser zog und reanimierte, bis die Rettungskräfte eintrafen und die Reanimation fortsetzten. Ihr Kreislauf stand rund eine Stunde lang still, bevor das Herz wieder zu schlagen anfing.

Nach dem Transport nach Basel reagieren ihre Pupillen immer noch nicht auf Licht. Die Leitenden Ärztinnen und Ärzte mehrerer Fachdisziplinen diskutieren im Schockraum. Sie sind sich nicht einig. Mitten unter ihnen steht eine Kinderintensivmedizinerin mit bunter Weste über dem weissen Kittel. Das auffällige Kleidungsstück zeigt, dass sie das Team leitet.

Zwei Jahre später, an einem Nachmittag im Sommer 2023, sitzt die Leitende Kinderärztin und Intensivmedizinerin Maya André in ihrem Büro im Universitäts-Kinderspital und erzählt von der damaligen Situation im Schockraum. Es waren schwierige Entscheidungen, die sie und ihr Team damals treffen mussten. Ein Kollege vom Universitätsspital habe ihr zu einer ECMO-Therapie für Sarah geraten, erinnert sie sich. Bei der sogenannten Extrakorporalen Membranoxygenierung wird über eine grosse Kanüle das gesamte Blut aus dem Körper herausgepumpt, kontrolliert erwärmt und mit Blutverdünnern wieder in den Körper zurückgeführt. Doch die aufwendige Methode birgt Risiken: Kinder erleiden häufiger als Erwachsene Thrombosen, Durchblutungsstörungen und Hirnblutungen.

«In Basel bieten wir diese Therapie bei Kindern unter zehn Jahren nicht an», sagt Maya André. Zwar hätte sie Kolleginnen und Kollegen aus Bern oder Zürich herbitten können. «In der Zwischenzeit hätte ich sowieso reanimiert und weiter erwärmt.» Da es derzeit keine offiziellen Empfehlungen für den  insatz einer ECMO-Therapie bei einem Fall wie Sarah gibt, entschloss sich die Ärztin, auf diese Massnahme zu verzichten.

Prozedur mit Hindernissen.

Stattdessen bittet Maya André den anwesenden Kinderchirurgen, die Bauchhöhle der Zweijährigen gerade so weit zu öffnen, dass ein Katheter hineinpasst. Ein Routineeingriff für den Operateur mit viel geringeren Risiken für das Kind. Die Ärztin führt warme Kochsalzlösung ein, holt sie wieder heraus, führt wieder warme Flüssigkeit hinein, wieder und wieder – drei Stunden lang. «Ständig legten sich beim Herauspumpen Darmschlingen vor den Katheter», erinnert sich Maya André. Aber die Methode funktioniert.

Als der kleine Körper 33 Grad warm ist, bringt das Team Sarah auf die Intensivstation des Kinderspitals. «Weil noch viel Flüssigkeit im Bauch war, hatte ich beim Verlegen auf die Intensivstation enorme Schwierigkeiten mit der Beatmung. Das Wasser drückte nach oben und die Lungen konnten sich nicht gut erweitern.» Auf dem Weg zur Kinder-Intensivstation beatmet sie Sarah mithilfe eines Beutels mit der Hand.

Auf der Station schaltet sie mit Medikamenten jede Muskelaktivität des Mädchens aus. «So konnten wir die Beatmung vollständig kontrollieren», so Maya André. Etwa zwei Stunden später passiert das Wunderbare: Die Pupillen der Zweijährigen reagieren endlich auf Licht. Am nächsten Morgen entfernt das Team den Beatmungsschlauch, Sarah atmet selbst. Maya André geht nach vielen Stunden nach Hause – und bekommt eine Weile später ein Video, das sie bis heute nicht vergessen hat: Darauf ist Sarah zu sehen, die verkündet, dass sie sich allein die Zähne putzen will. Fünf Tage später darf das Mädchen gesund nach Hause gehen.

Kinder brauchen andere Therapie.

Als das Kind längst wieder bei seiner Familie ist, diskutieren die Ärztinnen und Ärzte des Kinderspitals und des Universitätsspitals weiter. Wäre eine ECMO-Therapie doch die angemessene Wahl gewesen? Um das herauszufinden, sucht Maya André in der Fachliteratur nach ähnlichen Fällen. Sie findet 57 Fallbeschreibungen aus verschiedenen Ländern. Die Kinder waren jeweils höchstens sechs Jahre alt, ihre Körpertemperatur betrug nach einem Ertrinkungsunfall maximal 28 Grad Celsius. 44 von ihnen wurden mit einer ECMO-Therapie behandelt, nur 13 ohne das hochinvasive Verfahren.

Die Analyse zeigt: In der ECMO-Gruppe sind viele Kinder gestorben oder hatten schwere Folgeschäden. Die Ärztin ist deshalb skeptisch, ob man derart kleine ertrunkene Kinder mit einem womöglich schweren Sauerstoffmangel des Gehirns mit allen technisch machbaren Möglichkeiten erwärmen sollte. «Kinder sind keine Erwachsenen. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass eine Therapie bei ihnen funktioniert, die in der Erwachsenenmedizin zunehmend häufiger angewandt wird.»

Sie ist sich aber bewusst, dass ihre Analyse Schwächen hat: Die Unfälle und Behandlungen sind selbst innerhalb der beiden Gruppen nicht vergleichbar. Ganz zu schweigen von der Dunkelziffer: Die wenigsten Ertrinkungsfälle werden veröffentlicht. Ihre gesammelten Daten bieten zwar Hinweise, aber die Kinderärztin wünscht sich ein Register, in dem die Vorfälle, die Massnahmen und Ergebnisse weltweit gesammelt werden. Damit gäbe es eine Datengrundlage, wie man Kinder wie Sarah am besten behandeln sollte.

Im Fall von Sarah hat sich die Entscheidung des Teams als richtig erwiesen. «Prinzipiell war jeder Ausgang möglich», sagt Maya André. «Dass das Kind stirbt, dass es mit Behinderungen überlebt und – zunächst am unwahrscheinlichsten – dass es wieder ganz gesund wird.» Dass der unwahrscheinlichste Fall eintrat, könnte daran liegen, dass Sarah Glück im Unglück hatte. «Wir gehen davon aus, dass Sarahs Körper kalt geworden ist, bevor ihr Kreislaufstillstand eintrat.» So schützte die Kälte das Gehirn vor den fatalen Folgen des Sauerstoffmangels. Das bestätigte auch die Nachuntersuchung: Sarah hat ihren Unfall gesund überstanden. Besser hätte es nicht ausgehen können, sagt Maya André lächelnd.

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