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Folge mir! (02/2022)

Ein verstörendes Wörterbuch.

Text: Urs Hafner

Der Rechtspopulismus erstarkt seit Jahren, die Pandemie war ein Nährboden für Verschwörungstheorien. Dass beide Phänomene verwandt sind, zeigen Forschende anhand von Onlinekommentaren rechtspopulistischer Kreise.

Ein Mann liest Zeitung, Twitter-Vögel beschmutzen sie mir ihrem Kot.
Illustration: Christina Baeriswyl

Auf den sozialen Medien kann einem ganz schön schlecht werden. Was schon an der gewöhnlichen Twitter-Kommunikation ins Auge sticht, nämlich das schnelle Austeilen gegen Andersdenkende, wächst in manchen Foren ins Unfassbare. Hass, Ressentiments und Frustration artikulieren sich hemmungslos, Nutzerinnen und Nutzer beschimpfen andere mit Häme, sie lügen, behaupten und raunen. Man könnte hier glatt den Glauben an das Gute verlieren.

So erging es der Literaturwissenschaftlerin Hevin Karakurt, die für ihre Forschung solche Foren besucht hat. Was sie dort las, drehte ihr zuweilen den Magen um. Ganz selbstverständlich etwa werde auf Websites der extremen Rechten der Holocaust geleugnet, sagt sie: «Sie betreiben unverhohlen Geschichtsrevisionismus. Es heisst, dass die Nationalsozialisten nur das Beste für die Juden wollten.» Das Gas hätten die Nazis nicht eingesetzt, um die Juden zu töten, sondern aus hygienischen Gründen, um sie von Ungeziefer zu befreien. «Das zu lesen ist schwer erträglich», sagt die Forscherin. Die Kategorien wahr und falsch, Fiktion und Faktisches haben in diesen Diskursen ihre Bedeutung verloren.

Hevin Karakurt gehört zu einem Team von Forschenden aus den Literatur-, Sozial- und Kommunikationswissenschaften, das unter anderem den rechtspopulistischen Verschwörungsdiskurs im Netz untersucht. Im Basler Forschungsprojekt «Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ‹postfaktischen Zeitalter›», das von Nicola Gess geleitet wird, erarbeiteten die Forschenden ein digitales Wörterbuch zum «konspirativen Populismus» im Internet, das RPC-Lex (Right-wing populist conspiracy discourse).

Korrupte Elite, versteckte Agenda

Die Verwandtschaft von Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien liegt nicht unbedingt auf der Hand: Während der Rechtspopulismus das als homogen konzipierte «Volk» gegen die korrupte «Elite» stellt, folgt die Verschwörungstheorie den Leitsätzen, dass alles miteinander verbunden sei, nichts zufällig passiere und nichts sei, wie es scheine. «Populismus und Verschwörungstheorie befruchten sich insbesondere in rechtsnationalistischen Kontexten gegenseitig», sagt Karakurt.

Um das RPC-Lex zu erstellen, arbeitete das Basler Team mit Cornelius Puschmann von der Universität Bremen zusammen. Zum einen konsultierten die Forschenden theoretische Literatur und linguistische Studien zu Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus, zum anderen untersuchten sie mit Studierenden einschlägige Schriften. Darunter waren etwa die berüchtigten «Protokolle der Weisen von Zion» oder Texte des deutschen Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen. Schliesslich scannten sie mithilfe computergestützter Verfahren einen Datensatz aus Social-Media-Posts, die im Umfeld der Partei «Alternative für Deutschland» und der Bewegung «Pegida» entstanden waren.

Herausgekommen ist ein deutschsprachiges Wörterbuch mit rund 10 000 Einträgen in 13 Kategorien, sortiert nach «Stil», «Gegner» und «Themen». Da finden sich sowohl einzelne Wörter wie «Auschwitzkeule» oder «Kopftuchmädchen» als auch Wendungen wie «Hinter den Vorhang schauen». Letzteres taucht im Kontext von Verschwörungstheorien auf, weil es auf eine angeblich versteckt gehaltene Wahrheit hinweist: In verschwörungstheorieaffinen Zirkeln schaut man besonders häufig «hinter den Vorhang», um die wirklich Mächtigen zu enthüllen, ob das nun die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sei oder die jüdische Bankiersfamilie Rothschild.

Überraschend tauchen in dem Wörterbuch aber auch esoterische Begriffe auf, wie etwa die «Erweckung», die auf den ersten Blick harmlos anmutet. Literaturwissenschaftlerin Karakurt verweist darauf, dass es eine Überschneidung zwischen esoterischem und rechtem Gedankengut gebe: Der Nationalsozialismus habe viele Elemente des esoterischen Denkens aufgenommen, was heute kaum mehr bekannt sei, oft auch nicht denen, die sich als Esoteriker bezeichneten.

Esoterik ist nur eine der 13 Themenkategorien des RPC-Lex. Andere sind beispielsweise Antielitismus, Apokalypse und Nationalismus. Dem Verschwörungsdiskurs geht es um das Enthüllen, Skandalisieren und Verdächtigen. Die Gegner heissen Juden, Eliten, Migranten, Frauen und Angehörige der LGBT+-Community. Wer sich durch das RPC-Lex klickt, stellt fest, wie erstaunlich vielfältig der Diskurs ist – und wie dynamisch. Das Wörterbuch zeigt nicht nur den Zustand des Verschwörungsdiskurses, sondern lässt sich auch anwenden, um seine Zusammensetzung und Veränderungen zu untersuchen.

So zeigt das RPC-Lex beispielsweise in Facebookdaten von 2010 bis 2019, wie sich die Anti-Immigrations-Rhetorik während der «Flüchtlingskrise» von 2015 hochschaukelte. Gleiches gilt für die Konjunktur antifeministischer Ausdrücke rund um die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Deutschland 2017. Ein neues diskursives Untersuchungsfeld könnte Russlands Krieg in der Ukraine sein.

Mechanismen erforschbar machen

Die Sammlung der Begriffe und Wendungen soll laut Karakurt vor allem eine Ressource sein: «Wir wollen Zusammenhänge erforschbar machen, die vorher nicht sichtbar waren. Dank der Computerlinguistik erkennen wir in riesigen Textmengen Muster, auf die wir sonst nicht gestossen wären.» Jetzt sähen sie, dass in Deutschland die apokalyptische Rhetorik, die Furcht vor dem unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang und dessen Beschwörung, mit Migrationsfeindlichkeit zusammenhängt. «Ein Beispiel sind Superverschwörungstheorien wie der ‹Grosse Austausch›, der Migration auf den geheimen Plan zurückführt, die weisse Mehrheitsbevölkerung durch Muslime und Nichtweisse zu ersetzen», sagt die Literaturwissenschaftlerin.

Zwar ist das RPC-Lex kein Gegenmittel gegen rechtspopulistisches, verschwörungsaffines Gedankengut. Aber es ist ein wertvolles Werkzeug, grosse Datensätze aus solchen Umfeldern zu analysieren. Karakurt hofft, dass so die Mechanismen dieses oftmals diffusen, aber gefährlichen Diskurses erkennbarer werden: «So können wir als Gesellschaft immer bessere Antworten auf die Frage finden, wie wir ihm begegnen wollen.»


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