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Erinnern und Vergessen. (01/2021)

«Der Hype ist der Skepsis gewichen.»

Interview: Urs Hafner

In den sozialen Medien verbreiten sich Lügen, Halbwahrheiten und Denunziationen mit Leichtigkeit. Sie sind für die demokratische Gesellschaft auch eine rechtliche Herausforderung, sagt die Juristin Nadja Braun Binder von der Universität Basel.

Porträt von Nadja Braun Binder
Prof. Dr. Nadja Braun Binder. (Foto: Oliver Hochstrasser)

UNI NOVA: Frau Braun Binder, im März haben die Schweizerinnen und Schweizer an der Urne die Einführung der E-ID, der elektronischen Identifizierung, deutlich abgelehnt. Überraschte Sie der Entscheid?

NADJA BRAUN BINDER: Mit der Frage habe ich gerechnet, aber als Juristin muss ich Sie enttäuschen: Nein. Eine Abstimmung endet immer entweder mit einem Ja oder einem Nein.

UNI NOVA: Dann frage ich Sie als Bürgerin.

BRAUN BINDER: Auch als Privatperson bin ich nicht sonderlich überrascht. Noch vor zwanzig Jahren herrschte in der Schweiz ein Hype um die digitale Demokratie, wie das Schlagwort schon damals lautete: um die Einführung des sogenannten E-Voting, also elektronischer Wahlen und Abstimmungen. Genf, Zürich und Neuenburg starteten Pilotversuche, schliesslich waren bis zu 15 Kantone eingebunden. Die rechtlichen Grundlagen für diese Verfahren sind mittlerweile geklärt, aber zu einem ordentlichen Betrieb ist es bis jetzt nicht gekommen, wir stimmen ja nach wie vor brieflich ab und setzen unsere Unterschriften mit Kugelschreiber auf Papier.

UNI NOVA: Wieso hat sich das E-Voting nicht durchgesetzt?

BRAUN BINDER: Weil die technische Umsetzung und die Konformitätsbeurteilung der elektronischen Stimmabgabe schwierig sind. Beides wurde unterschätzt. Für die Demokratie steht hier nichts weniger als das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger auf dem Spiel, da darf nichts schiefgehen. Die Medien haben die Umsetzung in den letzten Jahren vermehrt kritisch begleitet. Auch dies hat dazu geführt, dass der Hype der Skepsis gewichen ist.

UNI NOVA: Betrifft die Skepsis auch die E-ID an sich?

BRAUN BINDER: Das glaube ich nicht. Auch die Gegnerinnen und Gegner befürworten die E-ID, nur ist einmal mehr die Umsetzung strittig. Die Mehrheit des Stimmvolks will offenbar keine privatwirtschaftliche Lösung, aber die E-ID wird kommen. Schaffhausen bietet bereits eine an. Der Kantonsrat hat zudem Anfang Jahr dem Vorstoss zugestimmt, die elektronische Unterschriftensammlung für Initiativen und Referenden einzuführen. Die E-ID scheint dem E-Collecting den Weg geebnet zu haben. Schaffhausen könnte für die Schweiz ein Pionier werden. Der Föderalismus favorisiert oft den Kantönligeist, aber manchmal fördert er auch Innovation, weil der den Kantonen Handlungsspielräume lässt.

UNI NOVA: Sind Sie eine Befürworterin der digitalen Demokratie?

BRAUN BINDER: Das ist die falsche Frage, tut mir leid. Als Rechtswissenschaftlerin verstehe ich mich weder als Unterstützerin noch als Gegnerin zum Beispiel des E-Voting.

UNI NOVA: Sie trennen konsequent zwischen Ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin und Ihrer Haltung als Privatperson. Aber fliessen Ihre staatsbürgerlichen Überzeugungen nicht zwangsläufig in Ihre Forschung ein?

BRAUN BINDER: Natürlich habe ich eine Haltung zu meinen wissenschaftlichen Themen, aber das Ziel meiner Forschung ist es nicht, Position zu ergreifen. Vielmehr beschäftige ich mich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, es geht mir also etwa darum, ob die Demokratie die Wahl- und Abstimmungsfreiheit auch in Zeiten von Social Media und Fake News gewährleistet beziehungsweise welche rechtlichen Massnahmen notwendig sind, um diese Freiheit sicherzustellen. Der Staat muss garantieren, dass die Stimmberechtigten sich eine freie Meinung bilden können. Sie dürfen nicht unzulässig beeinflusst werden. Wenn Falschinformationen die offene Auseinandersetzung verunmöglichen, müssen die Behörden intervenieren. Für die Schweiz mit ihrer langen Tradition der Volksentscheide, die unser Staatswesen massgeblich prägen, ist die Informations- und Interventionspflicht des Staats zentral.

UNI NOVA: Also müsste der Staat zum Beispiel Facebook zensurieren, wenn ein User Falschaussagen über die Anzahl Burka-Trägerinnen in der Schweiz verbreitet?

BRAUN BINDER: Der Staat kann nicht einfach die freie Meinungsäusserung beschneiden wie in China. Die Wahl- und Abstimmungsfreiheit und die Kommunikationsgrundrechte schützen die Demokratie, aber auch den Privaten. Dieser darf natürlich keine strafbaren Aussagen machen und Persönlichkeitsrechte verletzen, aber in der politischen Auseinandersetzung seine Ansichten sehr wohl vereinfachen und zuspitzen, er darf sich auch anonym äussern und sogar lügen.

UNI NOVA: Wo verläuft die Grenze zwischen erlaubter Meinungsäusserung und Verletzung der Wahlfreiheit?

BRAUN BINDER: Das ist die Frage, die wir mit Blick auf die sozialen Medien klären müssen. Bislang hat die Rechtsprechung die Grenze dort gezogen, wo falsche und irreführende Informationen zu einem so späten Zeitpunkt in die Debatte einfliessen, dass es den Stimmberechtigten nicht mehr möglich ist, sich ein zuverlässiges Bild von den tatsächlichen Verhältnissen zu machen. So hat das Bundesgericht 2009 entschieden, dass ein erst in der Gemeindeversammlung unzutreffend bekanntgemachtes Dokument die Meinungsbildung der Stimmberechtigten beeinträchtigt und so die Abstimmungsfreiheit verletzt hat. Der Entscheid der Versammlung wurde aufgehoben.

UNI NOVA: Die sozialen Medien haben aber ihre eigene Zeitlichkeit. Ein alter Post kann aus dem Nichts auftauchen und eine neue Welle mit grosser Reichweite lostreten.

BRAUN BINDER: So ist es. Darum ist zu überlegen, welchen Stellenwert das Kriterium der Zeitnähe zum Abstimmungstermin noch hat. Noch wichtiger scheint mir das Kriterium, ob die Stimmberechtigten sich bei einer Desinformation dank Informationen aus anderen Quellen überhaupt noch eine unverfälschte Meinung bilden können – wenn nicht, hat das Gericht eine Abstimmung unter Umständen für ungültig zu erklären. Dies könnte eine präventive Wirkung haben und von krass irreführender Kommunikation abhalten.

UNI NOVA: Mit dem Internet leben wir seit bald dreissig Jahren, doch politische Lügen wurden auch schon vorher verbreitet, in der traditionellen Parteipresse etwa.

BRAUN BINDER: Richtig, darum will der Gesetzgeber zum Beispiel mit dem schon länger geltenden partiellen Verbot politischer Werbung in Radio und Fernsehen verhindern, dass finanzstarke Gruppen die demokratische Willensbildung beeinflussen. Er sanktioniert diffamierende, diskriminierende und ehrverletzende Äusserungen sowie Aufruf zu Hass strafrechtlich. Was mit dem Internet neu ist, sind die Möglichkeiten, Lügen und Halbwahrheiten in den sozialen Medien zu verbreiten, die in diesem Ausmass in den traditionellen Medien nie vorgekommen sind. Hinzu kommt, dass nicht nur Private die sozialen Medien nutzen, sondern auch staatliche Akteure. Der letzte US-Präsident hat über Twitter die Welt mit unzähligen Lügen überschüttet.

UNI NOVA: Findet die Demokratie also mittlerweile in den sozialen Medien statt?

BRAUN BINDER: Wir sind nicht in China, aber auch nicht in den Vereinigten Staaten. Noch immer dient den meisten Leuten das Abstimmungsbüchlein des Bundesrats als eine der wichtigsten Informationsquellen, und nur die wenigsten machen sich nur im Netz schlau. Dazu braucht es aber noch mehr Forschung.

UNI NOVA: Auch Sie sind auf Twitter. Haben Sie Erfahrungen mit Hatespeech gemacht?

BRAUN BINDER: Nein, zum Glück nicht. Es ist erschreckend, zu beobachten, wie schnell eine ungeschickte Aussage zu Shitstorm und Mobbing führt und wie viel Hass im Netz wuchert.

UNI NOVA: Brauchen wir ein neues Gesetz, das die Inhalte der sozialen Medien reguliert?

BRAUN BINDER: Für unsere demokratischen Abläufe und Mechanismen im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen sehe ich im Moment keinen Regulierungsbedarf: Sie funktionieren und sind rechtlich geschützt. Die Nutzung des vorhandenen Spielraums in der Rechtsanwendung halte ich für verhältnismässiger als ein generelles Verbot von zum Beispiel anonymen Äusserungen. Diese ermöglichen Angehörigen von Minderheiten im Abstimmungskampf die freie Meinungsäusserung, ohne dass sie sich vor Repressalien fürchten müssen.

UNI NOVA: Überwiegen denn nun die Gefahren oder die Chancen der sozialen Medien für die Demokratie?

BRAUN BINDER: Beides! Demokratie ist nichts Fixes, sie ist auf Veränderbarkeit hin angelegt. Wenn sich die Gesellschaft mit ihren Kommunikationsweisen verändert, dann ändert sich auch die Demokratie. Das ist auch eine Chance, zum Beispiel verschaffen sich in den sozialen Medien auch Gruppen ohne grosse finanzielle Ressourcen Gehör. Und paradoxerweise eignet sich das Internet nicht nur zur Verbreitung von Falschinformationen, sondern auch zu deren Korrektur. Es ist ein Raum für engagierte Diskussionen und unzählige Informationen. Man muss die Chancen aber rechtlich begleiten. Die Entwicklung des Digitalen ist nicht aufzuhalten, genauso wenig wie die Einführung des Frauenstimmrechts aufzuhalten war, zum Glück!

UNI NOVA: Allerdings hatte die Schweiz hier eine massive Verspätung. Sind wir daran, uns eine solche Verspätung auch im Bereich der digitalen Demokratie einzuhandeln?

BRAUN BINDER: Ich denke nicht. Wir waren schon mit dem E-Voting früh dran, und jetzt sind wir mit den Überlegungen zum Umgang mit den Auswirkungen der sozialen Medien auf die politische Willensbildung gut auf dem Weg. Ich begrüsse es, dass wir Regulierungen nicht überstürzt beschliessen, sondern diese gut und gründlich abklären. Das passt zu unserer Tradition der direkten Demokratie. Wir sind uns gewohnt, dass wir ein Problem differenziert betrachten müssen.

UNI NOVA: Manchmal erscheint der Souverän nicht sehr differenziert in seinen Entscheiden, sondern eher irrational, wenn ich an das Verbot von Minaretten und Verschleierung denke.

BRAUN BINDER: Als Bürgerin tue ich mich mit beiden Volksentscheiden schwer, aber man muss auch hier differenzieren, und zwar zwischen dem Bekenntnis zu einem demokratischen Verfahren und zu den Resultaten, die es produziert. Natürlich kann man jedes Verfahren verbessern, diskutabel ist etwa das Ständemehr in seiner heutigen Form, aber wenn ein Verfahren von der Verfassung vorgesehen ist, muss man mit den Entscheiden leben, ob sie einem passen oder nicht. Und im Rückblick erhalten manche Resultate eine neue Bedeutung, die man im Moment ihres Entstehens nicht sieht. Ich finde es gut, dass wir das demokratische Ventil Volksinitiative haben.

UNI NOVA: Dienen auch die Social Media als Ventil?

BRAUN BINDER: Auf jeden Fall, jede Möglichkeit der freien Meinungsäusserung dient als Ventil.

UNI NOVA: Die sozialen Medien sind aber auch eine Herausforderung für die Demokratie. Wer hat zuerst ein Bewusstsein dafür entwickelt, die Wissenschaftlerinnen oder die Politiker?

BRAUN BINDER: Es gab schon früh parlamentarische Vorstösse zum Thema elektronische Partizipation und digitale Demokratie. Die Politik ist sensibel, wenn Entwicklungen demokratische Verfahren tangieren. Gleichzeitig hat sich die Wissenschaft seit dem Aufkommen des Internets mit dessen Potenzial für die Demokratie beschäftigt.

UNI NOVA: Was hat Sie zum Thema geführt?

BRAUN BINDER: Es beschäftigt mich schon seit 20 Jahren, seit meiner Lizentiatsarbeit an der Universität Bern zum E-Voting. Sie war vermutlich die erste juristische Auseinandersetzung mit dem Thema in der Schweiz. Die Arbeit hat mich in Kontakt mit der Bundeskanzlei gebracht, wo ich nach dem Studium meine erste Stelle fand. Meine Dissertation verfasste ich zu Stimmgeheimnis und E-Voting, während meiner Habilitationsphase forschte ich in Deutschland zur Digitalisierung in Staat und Verwaltung.


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