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Erinnern und Vergessen. (01/2021)

Die Krise und das Können.

Text: Gunnar Hindrichs

In Krisenzeiten tritt die Unfertigkeit der Welt offen zutage. Wenn sich die Wirklichkeit im Werden befindet, müssen wir uns einmischen.

Prof. Dr. Gunnar Hindrichs. (Illustration: Studio Nippoldt)
Prof. Dr. Gunnar Hindrichs. (Illustration: Studio Nippoldt)

Seit über einem Jahr leben wir unter den Zwängen einer Pandemie. Die Räume der Universität lassen sich nur unter Auflagen betreten, Studium und Lehre finden am Rechner statt, in der Stadt sind Geschäfte und Beizen geschlossen, Reisen werden schwieriger, unser gewohntes Tun ist vielfach blockiert. Auch machen sich Unsicherheiten geltend, unser Miteinander gestaltet sich harziger, Vertrautheiten geraten ins Wanken, Erwartungen werden enttäuscht, vernünftige wie unvernünftige Ängste entstehen. Und die politischen Regelungen des Ganzen werden schwerer nachvollziehbar, verlangen ständige Information, berufen sich auf Experten statt auf allgemeine Meinungsbildung, erfolgen als Verfügungen von oben herab. Alles in allem scheint unser Handeln und Weiterhandeln gestört.

Leben wir in einer Krise? Die Frage ist nicht neu. Schon lange vor der Pandemie jagten sich Krisen und Krisenwahrnehmungen: Immobilienkrise, Bankenkrise, Demokratiekrise, Weltordnungskrise, Klimakrise … Bis heute sind die Krisen nicht ausgetragen. Einige sprechen daher von einer «multiplen Krise». Damit ist gemeint: All diese und noch weitere Krisen schliessen sich zu einer einzigen Krise von vielfacher Gestalt zusammen, die unsere Gegenwart prägt. Entsprechend scheint auch unser Leben mehr und mehr von Crisis Management bestimmt zu sein.

Aber was ist das eigentlich: eine Krise? Krisen sind Situationen der Entscheidung. Wir kennen das aus der Medizin: In einer medizinischen Krise entscheidet sich, ob der erkrankte Mensch gesundet oder stirbt. Ähnlich stand auch in der Bankenkrise die Entscheidung an, welche Geschäftshäuser überleben oder aber zusammenbrechen, und in der Klimakrise geht es um die Entscheidung, welches Leben wir zukünftig im Zusammenhang der Natur führen können und welches nicht. So scheint der Begriff der Krise von dem Begriff der Entscheidung her erklärbar zu sein. Doch der Begriff der Entscheidung bildet nur den ersten Schritt zum Krisenverständnis.

Denn Entscheidungen sind von den Möglichkeiten her zu begreifen, die entschieden werden. Entsprechend lauert im Hintergrund des Krisengeschehens der Begriff der Möglichkeit. Darum entsteht die neue Frage: Wie hängen Krise und Möglichkeit zusammen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir für einen Augenblick grundsätzlich werden. (Das ist ja das Geschäft der Philosophie.) Grundsätzlich lassen sich Möglichkeiten auf zwei Weisen verstehen. Die eine Verständnisweise kommt in der Formulierung «einer Person oder einer Sache ist … möglich» zur Sprache, die andere in dem Satz: «Es ist möglich, dass …». Im ersten Verständnis betrifft die Möglichkeit ein Können, im zweiten Fall betrifft sie das Bestehen eines Sachverhaltes. In der Philosophie wurde dieser Unterschied auf die Begriffe «Potenzialität» und «Possibilität» gebracht. Potenzialität – das ist die Möglichkeit als ein Vermögen oder ein Können. Possibilität – das ist der Modalstatus eines Sachverhaltes.

Ich will das durch ein Beispiel erläutern. Der Satz «Caesar kann den Rubikon überschreiten» spricht von Caesars Potenzial; er handelt von seinem Vermögen. Anders der Satz: «Es ist möglich, dass Caesar den Rubikon überschreitet.» Er gibt die Possibilität eines Sachverhaltes an: des Sachverhaltes nämlich, dass Caesar den Rubikon überschreitet. Beides hat mit einer Möglichkeit zu tun, und beides hängt auch zusammen. Wenn Caesar den Rubikon überschreiten kann, dann ist ja auch der Sachverhalt möglich, dass Caesar den Rubikon überschreitet.

Dennoch wird jeweils ein anderer Akzent gesetzt. Wer Caesar das Vermögen zuschreibt, den Rubikon zu überschreiten, hat etwas anderes im Sinn, als den Modalstatus einer Sachlage zu registrieren. Dieser andere Sinn besteht darin, dass die Möglichkeit, den Rubikon zu überschreiten, als Potenzial irgendwie in Caesar steckt, eben nur noch nicht verwirklicht, und dass sie darauf abzielt, schliesslich einmal verwirklicht zu werden, selbst dann, wenn sie niemals verwirklicht wird.

Aristoteles würde das alles so ausdrücken: Die Wirklichkeit, den Rubikon zu überschreiten, mangelt Caesar noch, aber das Potenzial kommt ihm zu, und im Ausgang von diesem Mangel verändert sich Caesar in Richtung des Ziels, den Rubikon zu überschreiten. Er verwirklicht dann sein Potenzial. Hier gehört Caesars Können zu seiner Bestimmbarkeit, die mit der Verwirklichung der Rubikon-Überquerung eine neue Bestimmtheit erhält – und die im Blick auf diese neue Bestimmtheit durch das «Noch nicht» eines Mangels gekennzeichnet ist. Denn Caesar kann zwar den Rubikon überschreiten, hat es aber noch nicht verwirklicht. Daraus ergibt sich, dass die Potenzialität ein Moment des Werdens im Blick auf ein «Noch nicht» bildet, während die Possibilität ohne den Blick auf das Werden auskommt.

Kommen wir von dieser Grundsatzüberlegung auf unsere Krisenerfahrung zurück. In Krisen geht es um das, was Menschen können und nicht können. Entsprechend richtet sich ihre Verknüpfung mit der Möglichkeit vorrangig auf Potenzialität statt auf Possibilität. Und das heisst nun nach unserer Grundsatzüberlegung: Krisen haben es mit dem Werden in Richtung auf ein «Noch nicht» zu tun. Nehmen wir die Vermutung ernst, dass im Hintergrund der Krise der Begriff der Möglichkeit lauert, so treffen wir folglich auf einen weit ausgreifenden Gedanken. Er lautet: Wir und unsere Welt sind von Potenzialitäten durchtränkt und darum im Werden. Blosse Fantasien sind diese Potenziale nicht. Vielmehr sind sie durch einen konkreten Mangel, ein «Noch nicht» gekennzeichnet, auf dessen Behebung hin wir und unsere Welt uns im Werden befinden, und darum auch von diesem Mangel her erkennbar.

Vielleicht meinte Karl Marx so etwas, als er schrieb: «Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.» Seine Sätze deuten den Mangel in unserer Welt als deren unverwirklichten Traum. Sie deuten ihn als ihr «Noch nicht». Den Traum der Welt von einer Sache bewusst zu machen hiesse also: das Potenzial bewusst zu machen, auf dessen Verwirklichung unsere Welt aus ist. Und das hiesse, uns und unsere Welt im Vollzug unseres Werdens voranzubringen.

In Krisen hingegen, so meine These, wird dieses Werden blockiert, sodass der Mangel unserer Welt sich verfestigt, obwohl er nach seiner Aufhebung verlangt. Unser Handeln wird blockiert – das bedeutet nun: Unsere Potenziale im Blick auf ein «Noch nicht» werden nicht verwirklicht. Das klingt entmutigend.

Aber in Krisen wird zugleich endlich etwas sichtbar, das schon lange schwelte und nun nach einer Lösung verlangt. Denn der Mangel, das «Noch nicht», tritt dadurch, dass er sich krisenhaft verfestigt, in ihnen zutage. Wir müssen nur die Augen öffnen, um ihn zu sehen. Und das entmutigt nicht, sondern ermutigt zur Erkenntnis dessen, was fehlt, und zu der Erkenntnis dessen, dass unsere Welt aufgrund dieses Fehlenden sich im Werden befindet. Freilich wird sie nicht, ohne dass wir uns einmischen. Es kommt also darauf an, die Mängel unserer noch unfertigen Welt ins Auge zu fassen und unser Können zu verwirklichen.

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