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Erinnern und Vergessen. (01/2021)

Das kollektive Gedächtnis – ein Mythos?

Text: Samuel Schlaefli

Der Historiker Erik Petry glaubt nicht, dass sich Gesellschaften gemeinsam erinnern können. Überzeugt kritisiert er die gängige Lehrmeinung und verweist unter anderem auf die jüdische Geschichte.

Davidstern
Davidstern an blühendem Baum. (Symbolbild: David Holifield, unsplash)

«Wir schaffen das» – diese drei Worte werden als Vermächtnis Angela Merkels in die Geschichtsbücher eingehen. Am 31. August 2015 sprach sich die Bundeskanzlerin inmitten der sogenannten Flüchtlingskrise für Deutschlands Solidarität mit jenen aus, die alles verloren haben. Wenige Tage später wurden die Grenzen geöffnet. Tausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, Irak und Afghanistan, machten sich darauf auf den Weg nach Deutschland – motiviert durch die drei Worte Merkels und die damit verbundene Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in Sicherheit.

Merkels mutige Ansage wurde später oft auf das «kollektive Gedächtnis» der deutschen Bevölkerung zurückgeführt. Hier habe sich nämlich die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Shoah in Form einer historischen Verantwortung eingebrannt. Doch damit kann der Historiker Erik Petry wenig anfangen: «Wenn Merkel ihre Entscheidung aus einem ‹kollektiven Gedächtnis› heraus abgeleitet hätte, müsste die Bevölkerung bis heute geschlossen hinter ihr stehen», sagt der stellvertretende Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Universität Basel.

Die jüngere Geschichte zeige jedoch, dass dies nicht der Fall sei: Der Aufschwung der AfD, die öffentliche und mediale Hetze gegen Migrantinnen und Migranten, die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz von 2018 und die antisemitischen Morde in Halle von 2019, all das widerspreche Merkels «Wir schaffen das».

Kollektives Gedächtnis – was ist das überhaupt?

Petry hat sich in seiner Habilitationsschrift und in mehreren Aufsätzen kritisch mit den Begriff en «kollektives» und «kulturelles» Gedächtnis auseinandergesetzt, die ihm nicht trennscharf genug sind. Er erklärt dies mit einem Beispiel aus seiner eigenen Biografie: Er komme aus Deutschland und lebe nun seit 23 Jahren in Basel. «Bin ich als Person bereits Teil des kollektiven Gedächtnisses der Schweiz – oder zumindest von Basel? Und ist der ‹Bebby-Sagg›, der Basler Abfallsack, den ich regelmässig vor die Türe stelle, ebenfalls ein Teil dieses Gedächtnisses?», fragt er provozierend, gefolgt von einem schallenden Lachen. Schnell wird klar: Hier freut sich einer am Wettstreit der Ideen. Gerne stellt er Begriffe infrage, die viele andere ganz selbstverständlich benutzen.

Mit seinen Überlegungen stellt sich Petry gegen prominente Stimmen der Sozial- und Kulturwissenschaften. Erstmals populär machte den Begriff des «kollektiven Gedächtnisses» der Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs. In seiner ersten Veröffentlichung zum Thema – «Les cadres sociaux de la mémoire» – schrieb er 1925, dass das Umfeld alle Gedächtnisinhalte beeinflusse und diese somit sozial gerahmt seien. Jede Erinnerung werde zum kollektiven Phänomen und das kollektive Gedächtnis zum Repertoire an Erzählungen über die Vergangenheit, das unterschiedliche soziale Gruppen teilen. Gemeinsam mit dem weniger bekannten Kulturwissenschaftler Aby Warburg begründete Halbwachs die bis heute andauernde Beschäftigung mit Erinnerungskulturen.

Der Kulturwissenschaftler und Ägyptologe Jan Assmann nahm Halbwachs’ Begriff in den 1990er-Jahren auf und entwickelte ihn mit der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann unter dem Begriff des «kulturellen Gedächtnisses» weiter. Nationen, Staaten, die Kirche oder Unternehmen hätten zwar kein eigenes Gedächtnis, sie machten sich aber eines durch Zeichen, Symbole, Texte, Bilder, Riten und Monumente.

Für Jan Assmann ist das kollektive Gedächtnis ein identitätsstiftendes soziales Netzwerk. Dieses fördere Bindungen innerhalb einer Gruppe und trage zu einer «Wir-Identität» bei. Seine Ehefrau Aleida Assmann fügte dem Konzept später noch jenes des «nationalen Gedächtnisses» hinzu: Über geteilte Geschichte entstehe eine nationale Identität, die von Politikern und Politikerinnen bewusst beschworen werden könne, so ihre These. Dafür werden historische Bezugspunkte hervorgehoben, die das positive Selbstbild stärken und im Einklang mit bestimmten Handlungszielen stehen, während negativ konnotierte Ereignisse bewusst verdrängt werden.

Jüdische Geschichte als Gegenbeweis

Petry vergleicht Jan Assmanns Begriff des «kulturellen Gedächtnisses» gerne mit dem Heiligen Geist im Christentum – mit etwas Ungreifbarem, das über allem schwebt und von dem niemand so genau weiss, was es eigentlich ist. «Damit lassen sich keine Handlungen erklären; der Begriff ist für mich als Historiker somit wertlos», kritisiert er.

Die Annahme eines Gruppenbewusstseins sei ihm zu einfach, zu «holzschnittartig». In einem Aufsatz erläutert er, dass er sich «dem Individuum nähern, vom Individuum aus schauen» wolle. Petry nennt das mit Bezug auf den emeritierten Basler Historiker Heiko Haumann den «lebensweltlichen Blick», den er in der Forschung pflegt und seinen Studierenden vermitteln will. Zum Beispiel durch Oral-History-Projekte, in denen persönliche Handlungen und Erinnerungen von Shoah-Überlebenden und ihren Nachkommen dokumentiert werden.

Petrys intellektueller Feldzug gegen den Begriff des kollektiven Gedächtnisses ist umso erstaunlicher, als gerade die Entstehung des Zionismus und die Gründung des Staates Israel oft auf ein solches zurückgeführt werden. Doch für den Historiker ist die Geschichte der Juden ein Gegenbeweis. «Während der Gründungsphase Israels trafen zum Beispiel Holocaust-Überlebende aus Polen in Palästina auf gelehrte Juden aus Bagdad», erklärt er: «Beide waren jüdisch, keine Frage, das verband sie. Aber die beiden Gruppen hatten wenig miteinander gemeinsam und fühlten sich ganz sicher nicht durch ein kollektives Gedächtnis im Assmann’schen Sinne verbunden.»

Mündlich vermittelte Traditionen

Die Erfahrung der Unterdrückung sei in der jüdischen Gemeinschaft zwar durchaus geteilt und habe zu einem gemeinsamen Sicherheitsbedürfnis geführt, so Petry: «Aber dieses ‹Kollektive› ist den Juden von aussen aufgebürdet worden und hat nichts mit einer gemeinsamen Identität zu tun.» Die Diversität in der jüdischen Gemeinschaft werde meist stark unterschätzt. «Ich habe eine gute Freundin in Israel, die einer alten Rabbinerfamilie entstammt», erzählt er. «Sie sagt gerne von sich, dass sie zu 120 Prozent jüdisch sei, auch wenn sie auf die Religion pfeife.»

Also gibt es für den Geschichtsforscher gar kein gemeinsames Erinnern? «Doch, aber in Form von mündlich vermittelten Traditionen und verstanden als individueller Lernprozess», erklärt Petry. Der Begriff der Tradition sei wesentlich präziser und für die historische Forschung fruchtbarer als jener des kollektiven Gedächtnisses. «Angela Merkel ist damals mit ihrem ‹Wir schaffen das› nicht einfach einer allgemein geteilten Erzählung gefolgt», ist Petry überzeugt. «Vielmehr hat sie aus ihrer persönlichen Geschichte Lehren gezogen und daraus Handlungen abgeleitet.» Dass diese Handlungen nicht «kollektiv» gutgeheissen wurden, zeigt nicht zuletzt das Wiederaufflammen von Rassismus und Antisemitismus in weiten Teilen Europas.


Erik Petry ist Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte sowie stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel.


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