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Familien im Wandel. (02/2020)

Fürsorge und Gewalt in Tierfamilien

Text: Christoph Dieffenbacher

Dass sich Eltern um ihre Kinder kümmern, prägt das Familienleben vieler Lebewesen. Fürsorge soll das Überleben des Nachwuchses sicherstellen. Doch dabei kommt es häufig zu Tricksereien und Konflikten – manchmal auch zu roher Gewalt.

Gedränge um das Futter: Ohrwurmweibchen, das sich um ihre geschlüpften Jungen kümmert. (Foto: Joël Meunier)
Gedränge um das Futter: Ohrwurmweibchen, das sich um ihre geschlüpften Jungen kümmert. (Foto: Joël Meunier)

Gedränge herrscht im Bodennest. Mutter Ohrwurm der europäischen Art Forficula auricularia ist dabei, ihre Junglarven zu füttern. Weil nur wenige von ihnen überleben können, wappnen sich die Ohrwurmkinder mit einem Trick: Auf ihrer Haut bildet sich eine wachsartige Substanz, durch die sie nach wohlgenährten Jungen duften. Dies regt wiederum die Mutter dazu an, mehr Futter abzugeben. Für sie lohnt es sich schliesslich, in Kinder mit hohen Überlebenschancen zu investieren. Umgekehrt riechen es die Jungen, wenn Mama krank ist und wenig Futter zu erwarten ist. Die Tiere kommunizieren miteinander.

Ganz ähnlich produzieren die Raupen der Bläulingsschmetterlinge chemische Stoffe, die Ameisenarbeiterinnen täuschen; diese adoptieren die vertraut duftenden Raupen und ziehen sie auf. Die Larven des Totengräberkäfers wiederum kraulen ihre Eltern mit den Beinen am Kopf, die darauf ihr eigenes Futter hochwürgen und an den Nachwuchs weitergeben. Und junge Buckelzirpen lassen bei Gefahr den Ast, auf dem sie sitzen, vibrieren, um mütterliche Hilfe herbeizuholen.

Aufwand als Kosten-Nutzen-Rechnung

Die Tricks und Überlebensstrategien der schlauen Junginsekten sind zahlreich. Und bei anderen Tieren? «Da findet sich ebenfalls eine riesige Vielfalt von innerfamiliärer Fürsorge, aber auch von Formen früher Kommunikation und früher Konflikte», sagt der Zoologe Dr. Mathias Kölliker, ehemaliger SNF-Förderungsprofessor an der Universität Basel, heute Kurator am Naturhistorischen Museum Basel und Familienvater. Früher ging er der Evolution des Zusammenlebens in Tierfamilien nach, die er anhand von Ohrwürmern erforschte. Heute befasst er sich mit grundlegenden Fragen der Ökologie und Evolution, indem er publiziert und Ausstellungen kuratiert.

Die elterliche Fürsorge erhöht die Chancen, dass die eigenen Gene im Nachwuchs überleben. Dafür ist der Schutz vor giftigen Keimen und Raubfeinden ein Muss für alle Lebewesen. Viele Tierarten, so der Forscher, überlassen ihre Nachkommen einfach sich selbst, wie etwa im Wasser laichende Frösche. Überleben wird damit zum Zufall. Im Lauf der Evolution wurden unter bestimmten Bedingungen jene Tierarten bevorzugt, die Strategien der Fürsorge entwickelten – das heisst, fürs Erste bei den Jungen zu bleiben und sie zu beschützen. Das sei eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung, sagt Kölliker: «Fürsorge bedeutet Aufwand an Energie und Zeit, die den Eltern wiederum fehlt, um sich selber weiter fortzupflanzen.»

Nicht zu laut schreien!

Später im evolutionären Verlauf begannen die Tiereltern, ihre Neugeborenen mit Nahrung zu versorgen, ihnen erste Fähigkeiten beizubringen, um selbständig durchs Leben zu kommen und sich zu behaupten. Das führte mit der Zeit zu einer zunehmend starken Abhängigkeit der Jungtiere von ihren Eltern, die nicht umkehrbar ist. Denn inzwischen sei die Brutpflege bei den Vögeln und den Säugetieren so wichtig geworden, dass es gar nicht mehr ohne sie geht: «Diese Tierjungen könnten ohne elterliche Hege und Pflege gar nicht mehr überleben.»

Hungrige Jungtiere machen auf unterschiedliche Weise auf sich aufmerksam: die Vögel etwa durch Fiepen und viele Insekten durch die Aussendung von Pheromonen, für den Menschen nicht wahrnehmbare Gerüche. Vogeleltern können ihre Jungen durch Warnrufe anweisen, beim Betteln nicht zu laut zu schreien, wenn ein Raubvogel über dem Nest kreist. Kölliker stellt fest: «Sobald in der Evolution bei gewissen Tierarten die Brutpflege einsetzt, kommt es zu Kommunikation und sozialem Kontakt und damit zu einer Art Familienleben als erste Stufe von höheren Formen des Zusammenlebens.» Dies sogar auch dann, wenn der Nachwuchs von andern Tieren manipulativ untergeschoben wurde, wie beim Kuckuck oder dem Bläuling.

Bei vielen Insekten und Säugetieren seien es vor allem die Weibchen, die sich um den Nachwuchs kümmern, während sich Vogelpaare fast immer gemeinsam die Arbeit teilen. Doch: «Oft sind sich Mama und Papa nicht einig, wer was zu tun hat, und auch das kann zu Konflikten führen.» Bei gewissen Insekten und den meisten Fischen beschäftigen sich die Männchen mit den Jungtieren, während die Weibchen ihre Reviere verteidigen. Als ein krasses Beispiel erzählt Kölliker von bestimmten Spinnenweibchen: Sie opfern sich nach der Eierablage selber, indem sie ihre Innereien vorverdauen und sich auf die Jungen setzen, von denen sie förmlich ausgesaugt werden, bis sie sterben.

Bei Arten ohne väterliche Brutpflege kann es vorkommen, dass Jungtiere von Männchen getötet werden, etwa bei so verschiedenen Tieren wie den Ohrwürmern, den Löwen oder den Eisbären. Bei diesen beschützen die Weibchen ihren Nachwuchs vor den oft extrem aggressiven Männchen. Tiere kennen auch Formen der Fremdbetreuung, wenn einzelne Individuen als «Helfer» das Elternpaar unterstützen. Dies seien entweder Verwandte, Junge der vorherigen Brut oder Aussenstehende, die von den Eltern toleriert würden, solange sie bei der Aufzucht mitarbeiten – «Pay to Stay» nennt die Wissenschaft diese besondere Zusammenarbeit.

Wie die Milch entstanden ist

Die Brutpflege als Strategie, sich effizient fortzupflanzen, sei bei verschiedenen Tiergruppen unabhängig voneinander mehrfach entstanden, meint der Zoologe. Das zeigten vergleichende Studien. Doch lässt sich denn die elterliche Fürsorge über alle Lebewesen hinweg vergleichen, vom Einzeller bis zum Menschen? «Auch wenn es von aussen sehr unterschiedlich aussieht, stellen sich die grundlegenden Herausforderungen für alle Eltern gar nicht so anders dar.» Mechanismen in seiner eigenen Familie zu Hause nehme Kölliker mit einem geschärften Blick wahr. Für ihn ist es eine «wohltuende Erkenntnis, zu sehen, dass der Mensch als Teil der Natur nicht komplett anders als die übrigen Lebewesen auf diesem Planeten funktioniert».

Zum Schluss erzählt der Wissenschaftler noch die verblüffende Geschichte, wie sich in der Evolution vermutlich die Milch herausgebildet hat: Bestimmte Insektenweibchen, so auch etwa bei den Ohrwürmern, behandeln ihre Eier mit antibiotischen Substanzen zum Schutz vor Bakterien und Pilzen. Bereits die allerersten Säugetiere vor rund 200 Millionen Jahren legten noch Eier und bestrichen diese mit einem ähnlich schützenden Körpersekret. Dieses gilt als frühe Vorstufe der Milch von Säugetieren – sie diente also eigentlich als Mittel gegen schädliche Organismen und nicht als Nährflüssigkeit. Dabei hat die Milch noch immer die antibiotische Wirkung des Sekrets bewahrt.


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