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Familien im Wandel. (02/2020)

Der Geist in der Maschine.

Text: Markus Schöbel

Wie Hochrisikoindustrien von einer Kultur der Sicherheit getragen werden.

Dr. Markus Schöbel. (Illustration: Studio Nippoldt)
Dr. Markus Schöbel. (Illustration: Studio Nippoldt)

Hochspezialisierte Unternehmen in der Nuklear- und Chemieindustrie, der Zivilluftfahrt und der Eisenbahnindustrie bergen das Risiko, sich selbst, Menschen und Umwelt massiv zu schädigen. Umgekehrt betrachtet gewährleisten diese Unternehmen täglich ein enormes Mass an Sicherheit durch hochstandardisierte technische und betriebliche Abläufe, weshalb sie zuweilen auch als Maschinenorganisationen bezeichnet werden. In diesen ausgeklügelten Geflechten aus technologischen Systemen, den Menschen, die mit ihnen arbeiten, und Organisationen, die dieses Zusammenspiel koordinieren und regulieren, wirkt eine weitere wichtige, oft übersehene Einflussgrösse: die Sicherheitskultur.

Erstmals in den Fokus gelangte die Sicherheitskultur im Jahr 1986, wenige Monate nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl. Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) identifizierten eine mangelnde Sicherheitskultur als eine der Hauptursachen der Katastrophe. Der Verweis auf die Kultur erlaubte es, die grosse Bandbreite an festgestellten Fehlhandlungen und Regelverletzungen zusammenzufassen und somit das kollektive Versagen auf allen Ebenen der Organisation (und deren Beaufsichtigung) zum Ausdruck zu bringen.

Fünf Jahre später stellte die IAEA den INSAG-4-Bericht vor, in dem «Sicherheitskultur» erstmals offiziell und mit Blick auf entsprechende Anforderungen definiert wurde, also als «sicherheitspriorisierende Charakteristiken und Einstellungen in Individuen und Organisationen», die zum Beispiel eine kritisch hinterfragende Grundhaltung der Organisationsmitglieder und die Bereitstellung adäquater Sicherheitsressourcen durch das Management erfordern.

Bis heute finden sich in den Untersuchungsberichten industrieller Katastrophen regelmässig Hinweise auf das Versagen von Sicherheitskulturen. Dazu zählen nicht nur die oftmals schon über längere Zeiträume degradierenden Sicherheitsbedingungen am Unfallort wie defekte Alarmsysteme, inkonsistente Regelwerke oder Verstösse gegen definierte Abläufe. Zunehmend kommen auch räumlich und zeitlich entferntere Ursachen hinzu, wie die Ignoranz von Topmanagern gegenüber Warnsignalen (Raffinerie-Explosion in Texas City, 2005), Zeit- und Budgetzwänge bei der Einführung neuer Technologien (Absturz der Lion-Air Boeing 737-8 (MAX), 2018) oder das Versagen staatlicher Aufsicht (Kernschmelzen in Fukushima Daiichi, 2011).

Mittlerweile haben sich die Hochrisikoindustrien beinahe ausnahmslos zur Optimierung ihrer Sicherheitskultur bekannt und entsprechende Kontrollmechanismen installiert. Die vorherrschende Einsicht ist, dass der über die Technologie hinausgehende kulturelle Beitrag für die Sicherheit der Systeme elementar und unverzichtbar ist. Denn diese Systeme werden schlussendlich von Menschen erfunden, entwickelt, gebaut, bedient und instandgehalten. Anders als technische Komponenten reflektieren Menschen ihr Handeln, passen es der Situation an und tauschen sich aus, während sie zusammenarbeiten.

Der Geist einer Sicherheitskultur ist spürbar in den Policies, Prozessbeschreibungen und Broschüren von Organisationen. Üblicherweise umfasst sie Funktionen bzw. Personen als Beauftragte, Systeme zum Melden und Auswerten von Vorkommnissen, Ziele im Sinne einer Lernkultur sowie Prozesse wie die Entwicklung von Führungskräften. Sie wird gefördert in Trainingsprogrammen, erfasst durch Indikatoren und bewertet durch Dokumentenanalysen, Interviews und Betriebsbegehungen (im Rahmen von sog. Reviews). Als eines der wenigen sozialwissenschaftlichen Konzepte ist die Sicherheitskultur im Alltag dieser primär technologiebasierten Organisationen angekommen. Ihr positiver und unverzichtbarer Beitrag zur Systemsicherheit ist mittlerweile unumstritten.

Die wissenschaftliche Erforschung von Sicherheitskultur kommt demgegenüber nur schwer in Fahrt. Zu stark wiegen Bedenken gegen die theoretische Einbettung, die einzusetzenden Methoden und die sich ergebenden praktischen Implikationen. Als integrativer Ausgangspunkt hat sich in Fachkreisen das Modell des amerikanischen Organisationswissenschaftlers Ed Schein durchgesetzt, der die Kultur einer Organisation primär in den «selbstverständlichen und geteilten Annahmen» ihrer Mitglieder verortet. Diese Annahmen sind erlernt und verinnerlicht, nämlich im Zuge der erfolgreichen Anpassung an externe Gegebenheiten (z. B. «Wie gehen wir im Aufsichtsverfahren miteinander um?») und der notwendigen Integration in bestehende soziale Gefüge (zum Beispiel «Wer hat hier das Sagen, und kann man denjenigen oder diejenige kritisieren?»).

Folgt man diesem Verständnis, so erfordert die positive Veränderung von Sicherheitskultur das Aufdecken, Überprüfen und Infragestellen von vermeintlich selbstverständlichen (weil funktionierenden) Annahmen und Abläufen. Leider geschieht ein solch kritisches Hinterfragen in der Regel genau dann am heftigsten, wenn eine Sicherheitskultur bereits versagt hat. Doch genau dieser Zeitpunkt ist problematisch, insbesondere wenn man aus dem Versagen lernen soll.

Je nach Schwere der Konsequenzen stehen häufig zuerst individuelle Schuldfragen im Raum. Diese sind jedoch der Entwicklung einer Sicherheitskultur eher wenig zuträglich und können sogar destabilisierende Effekte erzeugen, wie mangelndes Vertrauen in die Führungsebene oder eine Entfremdung von eigenen Arbeitstätigkeiten durch «überbordende» neue Sicherheitsregelungen. Auch fokussieren solche nachträglichen Aufarbeitungen von Unfällen vor allem auf Abweichungen von Soll-Abläufen, mit dem Ergebnis, hinterher genau zu wissen, was die Akteure nicht oder falsch gemacht haben. Ein proaktives Kulturverständnis setzt jedoch voraus, auch zu wissen, was die Akteure gemacht haben und warum sie dachten, genau dies zu tun wäre gut.

Und hier liegt der Schlüssel zu einem besseren Verständnis von Sicherheitskultur. Nämlich in den vermeintlich selbstverständlichen Überzeugungen, die den Erfolg – eben das «sichere Funktionieren» – einer Organisation ausmachen. Dazu gehören auch die nicht seltenen, aber eher unbeachteten Episoden, in denen Menschen durch ihre Expertise, durch Mut und Unabhängigkeit solche Systeme vor ihrem Zusammenbruch bewahrt haben. Wie Sicherheitskulturen aussehen, die solche Fähigkeiten begünstigen, ist bereits in vielen Modellen und Leitlinien theoretisch beschrieben. Wie man dies als Organisation nun am besten umsetzt, bedarf noch weiterer Klärung seitens der praxisnahen Forschung. Klar ist auch, dass Sicherheitskultur in heutigen Organisationen stärker denn je sich wandelnden globalen, digitalen und ökonomischen Rahmenbedingungen unterliegt, was diesen Geist in Zukunft umso schützenswerter macht.

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