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Wie wir entscheiden. (01/2020)

Wie uns das Gedächtnis täuschen kann.

Text: Martin Hicklin

In vielen Situationen wählen wir jene Optionen aus, an die wir uns am stärksten erinnern. Ein Grund für diese Tendenz ist, dass uns schwache Erinnerungen ein Gefühl von Unsicherheit geben.

Illustriertes Portrait von Prof. Dr. Sebastian Gluth. (Illustration: Studio Nippoldt)
Prof. Dr. Sebastian Gluth. (Illustration: Studio Nippoldt)

Wenn wir uns entscheiden müssen, rufen wir im Alltag laufend aus dem episodi­schen Gedächtnis mehr oder weniger verlässliche Erinnerungen ab. Diese benötigen wir, wenn es zum Beispiel darum geht, ein Restaurant zu wählen, das man mit Kolleginnen und Kollegen be­suchen könnte. Oder wenn mit Freunden ein Wan­derwochenende geplant ist.

Da werden verschiedene Optionen vor das geis­tige Auge treten, die einen besonders lebhaft, andere eher blass erinnert. Obwohl alltäglich genutzt, ist das Zusammenspiel zwischen Gedächtnis und dem kog­nitiven Prozess des Entscheidens erstaunlicherweise wenig erforscht. Das möchte Prof. Dr. Sebastian Gluth mit seinem Team der Abteilung Decision Neu­roscience an der Fakultät für Psychologie ändern. Die Zusammenhänge zwischen den im «episodischen Gedächtnis» gespeicherten konkreten Erinnerungen und dem Prozess des Entscheidens sind sein wich­tigstes Forschungsthema.

Verzerrender Einfluss

Welche Option warum schliesslich siegt und wie ob­jektiv die Erinnerung mitspielt, haben Gluth und Mitforschende vor einigen Jahren untersucht. Weder in Restaurants noch auf Wanderwegen, sondern vor dem Bildschirm im Labor, wo es galt, Snacks zu be­werten, sich ihre Verbindung mit einer Art Memory-Kärtchen zu merken und schliesslich eine Kärtchen-Wahl zu treffen, ohne dass der dazugehörende Snack gezeigt wurde.

Die Versuchsanlage hat sich bewährt. Belegt wurde in einem komplexen Versuch mit 30 Teilnehmenden, dass in dieser Situation meist jene Optionen gewählt wurden, an die sich die Probanden am besten erin­nerten. Das auch dann, wenn der zugehörige Snack zuvor eher als schlecht bewertet worden war.

Der hier wirksame verzerrende Einfluss des Ge­dächtnisses wird als «Memory Bias» bezeichnet. Er war nun zwar nachgewiesen. Aber die Mechanismen dahinter blieben ungeklärt. Diese Lücke hat nun Gluth mit den Doktorierenden Regina Weilbächer und Peter Kraemer gefüllt. Die drei testeten die Hy­pothese, dass die Wahl einer vergessenen oder schwach erinnerten Option gleichbedeutend ist mit der Wahl einer unsicheren Option. Unsicherheit, so weiss man auch aus der Forschung, hat niemand gern und wird im Prinzip eher gemieden.

Risiken, wenn Verluste drohen

Für den Versuch nutzten die Forschenden eine ältere und gut belegte Beobachtung aus der Unsicherheits­forschung: In zahlreichen Studien der vergangenen Jahrzehnte hatten Wissenschaftler um die beiden Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman gezeigt, dass Menschen, wenn es ums Gewinnen geht, die sicherste Wahl bevorzugen sowie Glücks­spiele oder Lotterien meiden. Genau umgekehrt aber gehen sie eher Risiken ein, wenn es darum geht, si­chere Verluste zu vermeiden. Dieses Phänomen nannten Kahneman und Tversky den Reflection Ef­fect. Basierend auf dieser Forschung und der Hypo­these, dass Unsicherheit eine Ursache des Memory Bias ist, erwarteten nun Gluth und Kollegen, dass sich eben jener Memory Bias umkehrt, wenn es um Verlustentscheidungen geht.

Und tatsächlich: Auch beim Experiment, in dem es darum ging, aus dem Gedächtnis zu wählen, wurde – wenn eine Belohnung winkte – auf gut er­innerte «sichere» Optionen gesetzt. Dieses Verhal­ten wendete sich aber ins Gegenteil, wenn es darum ging, Verluste zu vermeiden. Die im Experiment getesteten Vermutungen erwiesen sich als realis­tisch – und man versteht nun die Rolle, die das Ge­dächtnis bei Entscheiden unter Risiko spielt, ein Stück besser.

Konsequenzen könnte das in verschiedener Hin­sicht haben. So scheuen ältere Menschen bei ihren Entscheiden oft Risiken mehr als junge. Das soll nach allgemeinem Vorurteil seinen Grund in ihren festge­fahrenen Vorstellungen haben. Doch vielleicht ist eine andere, überraschende Erklärung für das Phäno­men das schwindende Gedächtnis. Das ist zwar – an­ders als die Tatsache abnehmender Gedächtnisleis­tung im Alter – experimentell (noch) nicht erforscht und belegt, kann aber als starke Vermutung aus der aktuellen Forschung des Teams der Abteilung Decis­ion Neuroscience gefolgert werden.

«In unserer Forschung interessieren wir uns da­für, wie man Entscheidungen so gut und genau wie möglich voraussagen kann. Das gehen wir auf ver­schiedenen Ebenen an», sagt Gluth. Er leitet als Assis­tenzprofessor die Abteilung Decision Neuroscience, einen der Pfeiler des Schwerpunkts Sozial-, Wirt­schafts- und Entscheidungspsychologie. Man arbeite in der Fakultät eng zusammen. Verbindend ist laut offiziellem Beschrieb «die Begeisterung für die Erfor­schung menschlicher Entscheidungen im sozialen und wirtschaftlichen Kontext».

Neurowissenschaftliche Verfahren

Gluth bringt als besonderen Beitrag Erfahrungen mit neurowissenschaftlichen Verfahren wie funktionaler Magnetresonanzbildgebung (fMRI) mit. Ein Allein­stellungsmerkmal. Die Methoden sind wertvoll, wenn es darum geht, die mit den untersuchten psy­chischen Vorgängen zusammenhängenden Abläufe im Gehirn zu identifizieren. Das sieht Gluth in erster Linie als Ergänzung. Vor allem aber würden die Me­thoden helfen, die Validität der Entscheidungsmo­delle zu testen und sie besser zu machen. «Ich bin in erster Linie Psychologe», sagt Gluth, «ich möchte wissen, wie Denken und Entscheiden funktionieren. Mein Ziel ist nicht einfach nur, zu wissen, was dieser oder jener Gehirnteil macht.»

Um ein Maximum an Transparenz zu erreichen, gelten für Gluth und sein Team von Anfang an die Regeln von «Open Science». Das verbessert die Wie­derholbarkeit der Experimente und die Reproduk­tion ihrer Ergebnisse massiv. Darum werden alle Experimente und das geplante Vorgehen detailliert im Voraus registriert. So können andere Forschende und Interessierte auf dem Server des Open Science Framework (OSF, www.osf.io) bereits erfahren, wel­che Hypothesen getestet werden sollen, was die Da­ten sind, aus denen die Vermutungen abgeleitet wurden, was man bereits weiss und wie man vorzu­gehen plant.

Auch die Rekrutierung der Studienteilnehmer, ihre Zahl und die Massnahmen, die getroffen wer­den, um die Resultate statistisch robust zu machen, sind im Voraus öffentlich, und mit ihnen selbst die Skripte der Modelle, mit denen gerechnet wird. Das ist eine Einladung zu kreativer Kritik. Ist eine Arbeit publikationsreif, wird sie vor der Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Zeitschrift auf einem für psychologische Forschung eingerichteten Preprint-Server publiziert und der fachlichen Kritik ausge­setzt. Erst dann wird publiziert, und zwar vornehm­lich in einer Fachzeitschrift, die den öffentlichen Zugang (Open Access) ohne Bezahlschranke erlaubt. Mehr kann man sich für mit öffentlichen Mitteln fi­nanzierte Forschung gar nicht wünschen.


Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

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