x
Loading
+ -
Wie wir entscheiden. (01/2020)

Wer etwas wagt, tut’s auch im Alter.

Text: Christoph Dieffenbacher

Bekanntlich gehen Menschen unterschiedlich gerne Gefahren und Risiken ein. Die individuelle Haltung dazu scheint aber über das Leben hinweg einem klaren Muster zu folgen, ähnlich wie die Intelligenz. Basler Psychologen untersuchen, wie die Risikoeinstellung von Menschen entsteht.

Illustriertes Portrait von Dr. Renato Frey. (Illustration: Studio Nippoldt)
Dr. Renato Frey. (Illustration: Studio Nippoldt)

Renato Frey fährt seinen Stehtisch herunter. Das moderne, dunkle Sofa in seinem Büro sieht zwar einladend aus. Aber der Besucher entscheidet sich, lieber am Arbeitstisch des Psycho­logen Platz zu nehmen, wo der Forscher die Unter­haltung mit Grafiken und Kurven verdeutlicht.

Wer lebt riskanter als andere?

Dass die eigenen Erfahrungen bei allen Entscheidun­gen im Alltag wichtig sind, scheint banal. Doch wel­che anderen Faktoren könnten noch eine Rolle spie­len, wenn es darum geht, «Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit» zu treffen? Damit bezeich­nen Fachleute jene Entscheidungen, bei denen nicht 100-prozentig feststeht, welche Konsequenzen unser Handeln mit sich bringen wird – die allermeisten also. Eine weitere Frage: Kommt es zusätzlich noch auf die konkrete Situation an oder auf die momen­tane Befindlichkeit? Und überhaupt: Welche Grup­pen von Personen sind risikofreudiger als andere?

Ältere Menschen und Frauen entscheiden ten­denziell weniger risikoreich, zitiert Frey neueste Studien. Doch müsse dieser Befund differenziert be­trachtet werden. Wie er mit andern Forschenden herausfand, treffen Ältere gewisse Entscheidungen gleich gut wie Jüngere – trotz ihrer geringeren geis­tigen Beweglichkeit. Doch dies gelte nur, wenn die Zahl an Möglichkeiten begrenzt ist. Erst wenn die Auswahl gross ist, mache sich der Altersunterschied bemerkbar.

Dass Männer bei Entscheidungen eher Risiken eingehen als Frauen, sei zwar statistisch nachweis­bar, aber: «Offen bleibt, ob solche Geschlechterunter­schiede Ergebnisse von biologischen oder von kultu­rellen Einflüssen sind.» Um diese Fragen zu klären, brauche es aufwendige Modellierungen mit verschie­denen Messinstrumenten. Dies bedinge auch, neue «spielerische Risikotests» zu entwickeln. Die For­schenden möchten dabei der komplexen Realität immer näherkommen.

Auf der Suche nach dem R-Faktor

«Wie wir uns bei Risiken normalerweise entschei­den, kann ziemlich gut mit einem Faktor ausge­drückt werden, nämlich der Risikopräferenz oder -einstellung», meint der Entscheidungsforscher. Die­ser R-Faktor, dem zurzeit weltweit mehrere For­schungsgruppen nachgehen, lässt sich als ein stabi­les psychologisches Merkmal bezeichnen. Frey und Kollegen haben diesen R-Faktor kürzlich als Erste in einer Studie mit über 1500 Testpersonen identifiziert. Sie konnten zeigen, dass dieser R-Faktor über die Zeit hinweg erstaunlich stabil bleibt: «Zwar nimmt die Risikopräferenz bei älteren Personen ab, aber wer als junge Person schon ein Draufgänger war, wird eher auch noch im hohen Alter Wagnisse eingehen.»

In dieser Studie hatten die Probandinnen und Probanden einen Tag lang am Computer mit 39 ver­schiedenen Risikoaufgaben zu verbringen – und di­verse Lotterien sowie spielerische Tests zu absolvie­ren, wie zum Beispiel den «Ballontest». Der funktio­niert so: Wer einen virtuellen Ballon aufpumpt, ver­dient mit jedem Stoss eine bestimmte Geldsumme, doch wenn er platzt, ist der Ertrag wieder weg. Ler­nen aus Erfahrung scheint da eine vielversprechende Strategie.

Das Besondere an dieser Studie war, dass sich die Testpersonen in Sachen Risiko auch selber einzu­schätzen hatten: Tatsächlich fanden die Psychologen einen starken Zusammenhang zwischen solchen Selbstauskünften und realen risikobezogenen Aktivi­täten der Beteiligten, etwa dem Rauchen. Verhaltens­basierte Risikotests, so Frey, ergeben dagegen bisher ein sehr inkonsistentes Bild: «Die Menschen zeigen je nach Aufgabe sehr unterschiedliche Risikoverhal­ten, was vor allem für die Messung der physiologi­schen und biologischen Grundlagen von Risikover­halten eine grosse Herausforderung darstellt – wie zum Beispiel bei der Verwendung von funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI).»

Modelle für Vorhersagen möglich?

So bleibe es denn ein langjähriges Ziel der Verhal­tenswissenschaften wie der Psychologie, die Risiko­präferenzen der Menschen in Modelle zu fassen, zum Beispiel, um bestimmte Vorhersagen treffen zu kön­nen. Lässt sich die Gesamtheit der Bevölkerung ein­zelnen Risikotypen zuordnen? Es scheint in diese Richtung zu gehen, sagt Frey und erzählt von einer anderen Studie. Dafür ging seine Forschungsgruppe von Daten einer Stichprobe von über 3100 Personen in den USA aus. Modellgestützte Clusteranalysen, die sonst in der Forschung zum maschinellen Lernen verwendet werden, ergaben, dass rund zwei Drittel der Probandinnen und Probanden mit vier grundle­genden Risikoprofilen beschrieben werden konnten.

International sind zahlreiche Teams der Ent­scheidungspsychologie weiter daran, Risikoverhal­ten zu erforschen: «Das ist ein anregendes Thema, auch weil es unterschiedliche Disziplinen wie Psy­chologie, Wirtschaft, Biologie, Medizin und Altersfor­schung berührt», so Frey. Verhaltensexperimente werden dabei ergänzt durch moderne Messtechni­ken und bildgebende Verfahren oder auch Methoden wie Eye Tracking, bei dem die Augenbewegungen von Probanden verfolgt werden können.

Klimawandel als systemisches Risiko

Auch zu praxisbezogener Forschung kommt es heute vermehrt. Deren Resultate können nicht nur in Psy­chologie und Ökonomie, sondern auch in Bereichen wie neue Technologien, Drogen- und Verkehrspolitik sowie Gesundheit angewendet werden. Auch das Thema Risikowahrnehmung – etwa zum 5G-Standard im Mobilfunk – bleibt aktuell. Dies nicht zuletzt bei systemischen Risiken. Dort sei das Problem, so Frey, dass die Folgen von Risikoentscheidungen nicht so­fort eintreffen, sondern oft sehr viel später – wie etwa beim Klimawandel.

Deshalb besteht weiterhin ein grosser Bedarf: nämlich zu testen, wie generalisierbar die Angaben und das Verhalten der Versuchspersonen im Labor mit ihrem wirklichen Risikoverhalten in der Realität übereinstimmen. Selbsteinschätzungen basieren ge­mäss den kognitiven Modellierungen von Frey in der Tat stark auf eigenen Erfahrungen, die Leute im All­tag gemacht haben. Ein optimistischer Befund also, mit dem der Forscher den Besucher wieder hinaus in die Welt voller Risiken entlässt.


Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

nach oben