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Älter werden (02/2018)

Geschichte ist für ihn das Grösste.

Text: Christoph Dieffenbacher

Als Wissenschaftler am Zentrum für Jüdische Studien setzt sich Erik Petry für die Erinnerung und gegen das Vergessen ein. Für ihn ist auch der Sport wichtig:
als Forscher, als Fan und als Aktiver.

Erik Petry, Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte. (Bild: Universität Basel, Andreas Zimmermann)
Erik Petry, Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte. (Bild: Universität Basel, Andreas Zimmermann)

Die Wandregale sind mit Bänden von Theodor Herzl, Siegfried Kracauer und Ernst Bloch fast bis zum Zusammenbrechen vollgestellt. In dem kleinen Büro unter dem Dachstuhl stapeln sich Bücher, Ordner, Papierstösse, Schachteln und Kartons, in der Mitte steht der eingeschaltete Laptop. Sonst hängen da noch ein Sportkalender und eine Medaille an der Wand. Im Zentrum für Jüdische Studien, untergebracht in einem Bürgerhaus, empfängt einen ein grosser, schlanker Mann in Jeans und schwarzem Hemd. Tiefe, sonore Stimme, der lebhafte Blick hinter einer schwarzen Hornbrille versteckt.

Turnvereine und Nahostkonflikt

«Zu wenig Platz für zu viele Bücher», sagt er mit einem kernigen Lachen. Erik Petry, seit zwei Jahrzehnten in Basel lebend, ist bei den Studierenden überaus beliebt. Das muss neben seiner offenen, zugänglichen Art auch an den Themen liegen, die er in Vorlesungen, Seminaren und Exkursionen anbietet: Zionismus, jüdische Kultur, Flüchtlingsgeschichten, Shoah und der Nahostkonflikt. Sein Engagement dafür steckt offenbar viele an. «Die Geschichte ist sowieso das Grösste: Es gibt nichts, was spannender wäre», sagt er. Es klingt überzeugend.

Geschichte, Literatur, Musik und eine gepflegte Sprache galten in der Familie viel. Sein Vater war Buchhändler, der in seiner Freizeit sehr viel las und sonntags mit Begeisterung Fussballberichte verfasste. Frau und Kind mussten da jeweils immer mit. Mutter strickte die Schals mit den Farben des Lieblingsvereins, schenkte dem Sohn später ein Trikot von Schalke 04, das jahrelang hielt, wie Petry anschaulich erzählt.

Lektüre mit Folgen

Auf die jüdische Geschichte und Kultur kam Petry auf einem besonderen Weg. Wann er sich dafür zu interessieren begann, kann er genau rekonstruieren, sagt er. Als Schüler hatte er einen Aufsatz über die Novelle «Die Judenbuche» der Annette von Droste-Hülshoff zu schreiben. Und zwar über die Frage, ob in der Geschichte der Jude Aaron als Geldhändler das Dorf betrogen habe. Von da an habe sich sein Interesse in Richtung jüdische Geschichte entwickelt, was später zu längeren Forschungsaufenthalten für die Promotion in Israel führte. Dort traf er auf Doktorierende aus Basel, die ihn zuerst für ein Ausstellungsprojekt, danach als Assistent an die Universität ans Rheinknie lotsten.

Sport und jüdische Erinnerungskultur, das sind seine Themen. Zum Sport hat er eine fast lebenslange Beziehung, erzählt Petry lachend: «Sechs Stunden nach meiner Geburt wurde ich Mitglied des Fussballvereins VfL Kassel und bin es heute noch.» Bis 35 spielte er in verschiedenen Amateurvereinen, war auch als Trainer und Schiedsrichter aktiv. Seit er in Basel lebt – inzwischen in einem Reihenhaus am Standtrand –, macht er Judo und Langstreckenläufe, so dieses Jahr den spektakulären Jungfrau-Marathon. Daneben joggt er täglich frühmorgens. Dem FC Basel ist er als regelmässiger Matchbesucher treu, zusammen mit Freundin und fussballbegeisterten Mitarbeiterinnen.

Sport und Gesellschaft

«Über den Sport lässt sich vieles vermitteln», sagt Petry. Wie sieht der Kontext aus, in dem er betrieben wird? Welche Rolle spielt er für die Menschen? Wer beeinflusst wen? «Im Sport spiegelt sich eine ganze Gesellschaft», sagt Petry, «und er wirkt auch bei der Herausbildung einer Gesellschaft mit, etwa bei der Integration von Ausländern.» Der Historiker äussert sich auch in Vorträgen und auf Podien über Sport, wird auch oft von Medien dazu angefragt. Gewalt im Fussball, sagt er, sei zum Beispiel ein altbekanntes Phänomen: «Schon in früheren Zeiten waren die Spiele von Schlägereien begleitet.»

Doch obwohl der Spitzensport heute sehr professionell vermarktet wird, lasse dessen Faszination nicht nach, sagt Petry. Die Kommerzialisierung schrecke offenbar die meisten nicht ab. Doch wissenschaftlich werde das Phänomen kaum untersucht. Schade findet der Forscher etwa, dass das Sportmuseum Schweiz in Basel immer noch nach finanzieller Unterstützung suchen müsse. Hier und anderswo gebe es noch viel Material zur Geschichte des Sports, das sich zu erforschen lohne. Das sagt er auch seinen Studierenden, die so die Chance erhalten, mit originalen Quellen zu arbeiten.

Ein jüdischer Verein

Auch Petrys Habilitationsschrift hat am Rand mit Sport zu tun: Er forschte über einen jüdischen Verein in Zürich, der sich aus einem Freundeskreis im Zürich der 1920er-Jahre entwickelte und jahrzehntelang bestand. Am Anfang stand gemeinsames Schachspiel, und das Ende war erst mit dem Tod der letzten Mitglieder dieses Jahr besiegelt. Das «Pack» nannte man sich seit dem Zweiten Weltkrieg selbst und übernahm damit selbstbewusst die Bezeichnung aus Goebbels’ Hassreden. «Der Verein funktionierte wie eine Loge: Man half sich untereinander ein ganzes Leben lang.»

Wichtig war bei diesem Forschungsprojekt – vonseiten der Vereinsmitglieder wie auch beim Historiker selbst – die Angst, dass mit dem «Pack» ein Stück Kultur vergessen geht. Petry konnte die letzten Mitglieder noch selbst befragen, und zwar mangels schriftlichen Quellen mit der Methode der Oral History: Er führte Interviews und wertete sie aus. Um erst einmal Vertrauen herzustellen, waren dabei viele und lange Gespräche nötig, ohne dass das Tonband lief. Der Historiker wandte bei dieser Forschungsarbeit das Konzept der sogenannten Lebenswelt an, bei dem das Individuum in der Geschichte in den Vordergrund gestellt wird.

Verwaltungsarbeit

Neben Forschung und Lehre fällt für Petry einiges an Arbeit auch in der Verwaltung und im Organisieren an, denn als Vertreter eines kleinen Fachs habe er in vielen Kommissionen und Gremien der Universität dabei zu sein. Dadurch komme man aber auch eher an Informationen heran, sagt er. Er macht diese Art von Arbeit gar nicht so ungern: «An einer Universität zu arbeiten, ist eben kein Nine-to-Five-Job», sagt er, der sich in Basel sehr wohl fühlt – nicht zuletzt auch, weil hier sein Fach in der Bevölkerung auf grosses Interesse stosse.

Und wer wie Petry im Zentrum für Jüdische Studien seit der Gründung mit dabei war, kennt sich nach 20 Jahren ziemlich gut aus, sagt er. Und wendet sich wieder seinem Laptop zu, der auf seinem von Büchern und Papierstössen umstellten Bürotisch steht – um an einem Fachaufsatz weiterzuarbeiten, den er für die Dauer des Besuchs unterbrochen hat.

Erik Petry, geboren 1961 im nordhessischen Kassel, ist Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte sowie stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien der Universität Basel. Nach dem Studium von Geschichte und Sportwissenschaft in Göttingen und Forschungsaufenthalten in Israel wurde er 1998 mit einer Arbeit über den frühen Zionismus promoviert und wechselte darauf nach Basel. 2010 habilitierte er sich an der Universität Basel.

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