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Leben in Stadt und Land (01/2018)

Das Leben der Grenzgänger

Text: Tobias Ehrenbold

Gegen 320'000 Menschen pendeln über eine Landesgrenze in die Schweiz, um hier zu arbeiten – doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren. Der Soziologe Cédric Duchêne-Lacroix betrachtet die komplexen Lebenswelten der Grenzgänger.

Wenn die Schweizer Arbeitskollegen nach Feierabend gemeinsam noch etwas trinken gehen, müsse er leider auf den Zug, sonst würde er erst nach 22 Uhr bei seiner Familie in Frankreich ankommen. Durch den Gang über die Grenze verpasse er leider plein de choses, erklärte ein Befragter den Autoren der Studie «Zur Situation der Grenzgänger in der Schweiz». Freundschaften, das Familienleben oder Hobbys zu pflegen sei für Grenzgänger generell eine Herausforderung, erklärt Cédric Duchêne-Lacroix, der die Untersuchung zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Universitäten Basel und Luxemburg sowie der Hochschule für soziale Arbeit Genf realisiert hat. Tendenziell sind die Grenzgänger gemäss der Studie immer besser qualifiziert, höchst mobil und in der Schweiz gut integriert.

Internationale Nordwestschweiz

Grenzgänger gibt es, seit es Grenzen gibt. Seit 2000 hat sich ihre Zahl in der Schweiz mehr als verdoppelt, heute sind es knapp 320'000. Damit haben über 6% aller Beschäftigten ihren Wohnsitz im Ausland, in gewissen Regionen sind es mehr als ein Viertel. Diese markante Zunahme habe bereits vor der Personenfreizügigkeit mit der EU eingesetzt, nachdem die Zahl der Grenzgänger in den 1990er-Jahren rückläufig gewesen war, erklärt Duchêne-Lacroix. Der Trend hänge nicht mit erleichterten Zulassungen, sondern mit der wirtschaftlichen Stabilität der Schweiz zusammen.

Basel bildet in der Schweiz das drittwichtigste Ziel von Arbeiternehmern mit ausländischem Wohnsitz. Basel-Stadt verzeichnet derzeit knapp 37'000 Grenzgänger, Baselland nochmals über 21'000: Etwa jeder sechste der hier Beschäftigten lebt entweder in Deutschland oder in Frankreich. Es gebe aber noch andere Grenzbewegungen in der Region Basel, sagt Duchêne-Lacroix und nennt etwa den Einkaufstourismus: Dieser erfolge in der umgekehrten Richtung und führe regelmässig zu Staus in deutschen Grenzstädten, wo er gemäss einer Studie bis zu 70% des Umsatzes ausmache. Zudem fliesse neben dem internationalen auch ein interkantonaler Grenzverkehr: So ziehe die Metropole Basel allein 50'000 Arbeitnehmende aus dem Baselbiet an – doch von Grenzgängern würde dabei kaum jemand sprechen.

Der Soziologe verweist damit auf eine Eigenheit von Grenzen: Wir nehmen sie unterschiedlich wahr, denn ihre Wirkung entfaltet sich oft erst in unseren Köpfen. In Basel scheint ihre Kraft allerdings geringer als anderswo zu sein: So gehören hier Begegnungen mit Menschen aus dem benachbarten Ausland zum täglichen Leben. Was sich in jüngster Zeit verschoben hat, sei die Herkunft der Grenzgänger: Waren es noch im 20. Jahrhundert vor allem Elsässer, die oft in Fabriken und Einkaufsläden tätig waren, sind es nun zunehmend Menschen mit Wohnsitz in Deutschland, die in Basel eine Stelle in einem Büro oder Labor gefunden haben.

Gegenwärtig halten sich französische und deutsche Grenzgänger in Basel zahlenmässig etwa die Waage. Deutsche Fachkräfte seien meist hochqualifiziert und durch ihre Muttersprache gegenüber französischen Konkurrenten im Vorteil, sagt Duchêne-Lacroix. Die schweizerischen Löhne – nicht selten um ein Vielfaches höher als am Wohnort – seien sicher ein anziehender Faktor. Doch eine rein wirtschaftliche Argumentation greife zu kurz, um die Motivation der Grenzgänger zu verstehen. Besonders anziehend sei etwa die Aussicht auf eine internationale Karriere, so der Forscher. Gerade junge Arbeitskräfte zeichnen sich durch eine hohe Mobilität aus: Ihre Wohnsituation passen sie jeweils dem Job an, wobei sie sich nicht selten an mehreren Orten gleichzeitig einrichten.

Frontaliers als Konkurrenten

Duchêne-Lacroix ist aufgefallen, wie unterschiedlich Grenzgänger in verschiedenen Regionen der Schweiz wahrgenommen werden. Während sich im Norden kaum politische Reaktionen feststellen lassen, bilden die Frontaliers in Genf und im Tessin seit Jahren ein politisches Thema. «In diesen Regionen hat die Zahl der Grenzgänger am stärksten zugenommen», erklärt der Soziologe. «Während sie im Nordwesten kaum auffallen, gelten sie hier als ausländische Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt.» In den beiden am stärksten von Grenzgängern frequentierten Kantonen – über 84'000 in Genf, knapp 65'000 im Tessin – fordern rechtspopulistische Parteien längst Massnahmen: So fand der 2005 gegründete «Mouvement Citoyens Genevois» in den Frontaliers unter anderem die Schuldigen für die chronischen Staus in der Westschweizer Metropole.

Und im Tessin nimmt die Filmkomödie «Frontaliers Disaster» das Phänomen zurzeit erfolgreich auf die Schippe. Hier spielte das negative Image des Grenzgängers eine entscheidende Rolle bei der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative von 2014. Parolen wie «Prima i Ticinesi» («Tessiner zuerst») verdeutlichten im Abstimmungskampf neue Dichotomien: Schweizer/Frontaliers – wir/sie – legitim/illegitim.

Obwohl die Volksinitiative auch eine Begrenzung der Grenzgänger vorsah, steigt ihre Zahl ungebrochen. Der Arbeitsmarkt in der Schweiz sei schlicht auf sie angewiesen, sagt Duchêne-Lacroix, das belegen verschiedene Wirtschaftsstudien. Als Beispiel nennt er die Gesundheitsbranche, die ohne Grenzgängerinnen vor Engpässe gestellt wäre. Durch die überwiegend von Frauen aus dem Ausland ausgeführten Pflegeberufe hat sich indes wenig an der Zusammensetzung der Grenzgänger geändert – fast zwei Drittel sind Männer. Gerade für Frauen mit Familie sei die Verbindung mit dem Wohnsitz eher stärker als für Männer, so Duchêne-Lacroix. Laut einer Studie pflegen Grenzgängerinnen seltener Freundschaften in der Schweiz als Männer, die zur Arbeit ins Ausland pendeln.

Statistisch schlecht erfasst

Vor 100 Jahren war es genau andersherum: Mehr Schweizer als Ausländer zogen für die Arbeit über die Grenze. Diese tägliche Pendelbewegung zwischen der Schweiz und dem Ausland hat sich heute – mit Ausnahme von Liechtenstein, wo über 10'000 Schweizer arbeiten – komplett umgekehrt. So wird für Baden im deutschen Bundesland Baden-Württemberg das Verhältnis zwischen schweizerischen und deutschen Grenzgängern mit 600 zu 35'000 beziffert. Doch obwohl es immer mehr Statistiken gebe, seien die Grenzgänger immer noch nicht gut erfasst, sagt Duchêne-Lacroix. Wegen methodischer Unterschiede seien die Angaben der verschiedenen Amtsstellen oft kaum miteinander zu vergleichen, zudem seien viele Grenzgänger zu mobil, um überhaupt erfasst zu werden. So verzeichne etwa das schweizerische Bundesamt für Statistik nur Grenzgänger mit der Arbeitsbewilligung G, die mindestens einmal pro Woche an ihren Wohnort zurückkehren. Bei Grenzgängern mit mehreren Wohnsitzen sei die Grauziffer daher wohl beträchtlich, sagt der Forscher.


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