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Rechner der Zukunft (02/2017)

Sprachförderung: Je früher, desto besser

Text: Samuel Schlaefli

Je früher Kinder mit Migrationshintergrund von Betreuungsangeboten ausserhalb der Familie profitieren, desto schneller lernen sie Deutsch – und desto kleiner sind später ihre Defizite in der Schule. Das zeigt eine Langzeitstudie von Basler Entwicklungspsychologen.

Basel-Stadt ist ein Kanton mit Migrationshintergrund: Über 100 Sprachen werden hier gesprochen, und über die Hälfte der Kinder sprechen zu Hause kein Deutsch. Der Kanton erkannte bereits vor einigen Jahren, dass dies weitreichende Auswirkungen auf Spielgruppen, Kindergärten und Schulen haben wird. «Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frühförderung waren schon damals eindeutig», sagt Alexander Grob, Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel: «Je früher sozial benachteiligte Gruppen beim Spracherwerb gefördert werden, desto weniger Probleme haben später Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht und desto tiefer fallen die sozialen und ökonomischen Folgekosten für die Gesellschaft aus.»

Basler Pionierprojekt

Der frühere Erziehungsdirektor Christoph Eymann liess sich von Grob beraten und initiierte das Projekt «Mit ausreichenden Deutschkenntnissen in den Kindergarten». Seine Idee: Eltern im Kanton Basel-Stadt sollen anderthalb Jahre vor dem Eintritt ihrer Kinder in den Kindergarten einen Fragebogen zu deren Deutschkenntnissen ausfüllen. Dieser ist heute in den zehn in Basel am meisten gesprochenen Sprachen verfügbar. Wo nötig, hilft eine interkulturelle Vermittlerin beim Übersetzen und Ausfüllen. Weisen die Antworten auf ein sprachliches Defizit hin, werden die Eltern durch ein «selektives Obligatorium» verpflichtet, ihre Zwei- bis Dreijährigen in eine Spielgruppe oder Kindertagesstätte mit integrierter Sprachförderung zu schicken – für ein Jahr und an mindestens zwei Halbtagen pro Woche.

Lebenskontext entscheidend

«Am meisten erstaunt hat mich, dass 75 Prozent der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache einen Förderbedarf hatten», erzählt Grob. «Die Hälfte verstand und sprach praktisch kein Wort Deutsch.» Wenig erstaunlich hingegen war für ihn der Befund: Je früher und je öfter ein Kind eine ausserfamiliäre Betreuungseinrichtung besuchte, desto besser waren seine späteren Deutschkenntnisse.

«Das Projekt in Basel ist wegen des frühen Zeitpunkts der Intervention einzigartig», sagt Grob. Seine Forschungsgruppe hat es mit einer aufwendigen Längsstudie während acht Jahren wissenschaftlich begleitet. Jährlich werden rund 1800 Eltern anderthalb Jahre vor dem Eintritt ihres Kinds in den Kindergarten für eine Einschätzung der Sprachkenntnisse ihrer Kinder angeschrieben. Das Team hat während vier Jahren eine Teilstichprobe von je rund 120 Kindern ausgewählt und ihren Lernprozess vier Jahre lang beobachtet. Insgesamt nahmen 586 Kinder an der Studie teil.

Über die gesamte Dauer erhoben die Forschenden viermal Daten zum Lernfortschritt der Kinder: im Vorkindergartenalter (durchschnittlich 3,3 Jahre), beim Eintritt in den Kindergarten (4,8 Jahre), am Ende des Kindergartens (6,2 Jahre) und am Ende des ersten Primarschuljahrs (7,3 Jahre). Dabei wurden nicht nur ihre Deutschkenntnisse analysiert, sondern auch der Lebenskontext, etwa die Unterstützung durch Eltern, Spielgruppe oder Schule. Die Forschenden beobachteten zum Beispiel, wie die Eltern mit ihren Kindern kommunizierten und wie viele Kinderbücher in welcher Sprache in den Haushalten verfügbar waren. Sie interessierten sich auch dafür, wie die Lehrpersonen die Deutschkenntnisse, die soziale Integration und die Selbstkompetenzen der Kinder einschätzten.

«Bis etwa sechs Jahren bedeutet es für ein Kind keinen Aufwand, eine Sprache zu lernen. Es bekommt sie einfach mit», erklärt Grob: «Doch dafür muss das Kind einem entsprechenden Kontext ausgesetzt sein.» Genau dieser wird durch das «selektive Obligatorium» in Basel-Stadt geschaffen.

Erkenntnisse aus der Psycholinguistik bestärken die Wichtigkeit einer frühen Intervention, bestätigt Prof. Heike Behrens, Professorin für kognitive Linguistik und Spracherwerbsforschung an der Universität Basel: «In den ersten drei Lebensjahren herrschen optimale Bedingungen für den Spracherwerb, weil viele verschiedene Entwicklungsstränge zusammenkommen und aufeinander aufbauen.» Es zeichne sich auch ab, dass sprachliche Defizite in dieser Phase später kaum noch kompensiert werden können. Gleichzeitig sei das Alter aber nicht der alleinige ausschlaggebende Faktor, präzisiert Behrens: Nur wenn auch andere positive Faktoren gegeben seien, gelinge der Spracherwerb.

Einer dieser Faktoren ist die sogenannte Akkulturation der Eltern, wie Grobs Studie zeigt: Je stärker sich Eltern mit Migrationshintergrund mit der Schweiz identifizieren, je höher also ihre Motivation ist, sich zu integrieren, und je grösser ihre Sicherheit, hier bleiben zu dürfen, desto steiler ist auch die Lernkurve der Kinder. Findet hingegen keine Akkulturation statt, hat dies selbst dann einen negativen Effekt auf den Spracherwerb der Kinder, wenn die Eltern zu Hause Deutsch sprechen. Die vermittelte Sicherheit, ein neues Zuhause gefunden zu haben, scheint für den Spracherwerb also wichtiger als die daheim gesprochene Sprache.

Das ist besonders im Umgang mit Flüchtlingen politisch relevant: «Willkommenskultur bedeutet eben nicht nur, den Menschen Gelegenheit zu geben, Deutsch zu lernen», sagt Grob. «Das Aufnahmeland muss ihnen auch die Sicherheit vermitteln, dass sich dies längerfristig lohnt.» Das bedeute auch: Öffentliche Gelder für Deutschkurse für Flüchtlinge sind nur dann gut investiert, wenn die Betroffenen zumindest die Möglichkeit erkennen, längerfristig in der Schweiz bleiben zu können.

Potenzial der Zweisprachigkeit

Das Basler Modell des «selektiven Obligatoriums» wird mittlerweile national und international als Best-Practice-Beispiel gehandelt. So nutzen auch der Kanton Luzern und die Städte Chur, Zürich und Schaffhausen den von Grob ausgearbeiteten Fragebogen. Zurzeit wird dieser in Basel in Tigrinya und Arabisch übersetzt und damit den neuen geopolitischen Realitäten angepasst.

Grob plant zugleich zusammen mit andern Universitäten eine weitere Langzeitstudie zu den «metakognitiven Kompetenzen von bilingualen Kindern». Dabei will er seine Hypothese prüfen, dass Kinder, die zweisprachig aufwachsen, sich gedanklich besser in andere hineinversetzen können. «Sollte sich dies bestätigen, muss das unbedingt gefördert werden», ist Grob überzeugt: «Besonders in zunehmend polarisierten Gesellschaften wäre die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen enorm wichtig.»


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