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Bild und Freiheit (01/2017)

Wider die Zweiteilung

Text: Markus Krajewski

Wenn es etwas gibt, für das eine Universität stehen sollte, ist es der souveräne Umgang mit Vielschichtigkeit – ein kurzes Lob der Komplexität.

Prof. Markus Krajewski. (Illustration: Studio Nippoldt)
Prof. Markus Krajewski. (Illustration: Studio Nippoldt)

Tag und Nacht. Lärm und Stille. Migros und Coop. Die Welt zerfällt. In null und eins lässt sich durch Digitalisierung scheinbar alles ausdrücken. Trotz der unausweichlichen Tendenz, noch den letzten Rest dem Digitalen einzuverleiben, hausen im analogen Dazwischen lauter Phänomene und Erkenntnisse, die eine genauere Betrachtung verdienen. Laufen diese doch Gefahr, bei der gegenwärtigen Transformation zum Digitalen auf der Strecke zu bleiben. Schaut man genauer hin, eröffnet sich eine vielgestaltige Landschaft in dieser Lücke. Ist doch das Digitale selbst bereits technisch gesehen alles andere als eindeutig bzw. zweiwertig codiert. Vielmehr operiert es mit überraschend weiträumigen Wertebereichen: Elektrotechnisch wird eine digitale 0 nicht etwa durch reine Abwesenheit geschaltet, sondern in einem TTL-Baustein durch eine variierende Spannung mit Toleranzen und Sicherheitspuffern zwischen 0 und 0,8 Volt (V) repräsentiert. Buchstäblich analog dazu speichert der Transistor den Wert 1 im Bereich zwischen 2,4 und 5 V. Die vermeintlich eindeutigen Dichotomien im Digitalen kollabieren bereits auf der materiellen Ebene der Elektrotechnik. «Search all scholarly literature from one convenient place», verspricht Google Scholar vollmundig, verschweigt dabei aber, dass ein Grossteil der erfassten Texte souverän alle bibliothekarischen Mindeststandards der Erfassung und Bibliografie unterläuft. Ein Bibliothekskatalog, der die nachzuweisenden Titel mit lediglich 99%-Genauigkeit verzeichnete, würde bei nur 10 000 Texten bereits 100 auf immer unauffindbare hinterlassen. So lässt sich statistisch exakt angeben, was aussen vor bliebe, wenn die Bibliothek der Zukunft keine papierenen Bücher mehr hätte. Und wie sieht die Bildwissenschaft der Zukunft aus, wenn statt der Unikate bald nur noch Datenbanken konsultiert werden?

Mit welchem Vorzug verheisst Big Data in den Digital Humanities mit ihrem enthemmten Datenpositivismus derzeit eigentlich «neue» Erkenntnisse, und zwar vornehmlich auf Fragen, wie sie bereits in den 1950er-Jahren gestellt wurden? Kaum zufällig wird bei der Suche nach dem Ahnherrn dieser jungen Fachrichtung auf den Jesuiten Roberto Busa verwiesen, der ab 1949 jahrzehntelang einen IBM-Mainframe mit Lochkarten zur Indizes-Erstellung fütterte. Vielleicht nicht ganz zu Recht, tilgt dieser Verweis doch eine Genealogie, die sich weiter bis zu Leibniz und dem barocken Universalismus zurückverfolgen liesse. Wobei Leibniz die Begründung seines Rechenverfahrens mit 0 und 1 noch mit einem gewitzten theologischen Argument versah: Gott ist alles und die 0 ist nichts. Aus derartigen binären Berechnungen, die aus der Differenz von Gott und dem Nichts hervorgehen, erwächst schon 1696 eine ganz neue digitale Weltsicht.

Worauf aber gründet heute diese fast schon transzendental anmutende Heilserwartung, die sich mit den Digital Humanities verknüpft? Unter anderem scheint diese Haltung auf einer tief wurzelnden Verunsicherung zu beruhen: auf der Sorge vor dem Ausgeliefertsein gegenüber einem digitalen Gegenüber, in welcher Form auch immer sich dieses zeigen mag, sei es als verlarvende Eingabemaske eines Webformulars, sei es als Fehlermeldung bei der Installation eines Betriebssystems oder sei es jene Ohnmachtserfahrung beim vergeblichen Versuch, sich der Vorgabe eines Programms zu widersetzen. Was vermag Abhilfe zu schaffen aus diesem Zwiespalt? Die kritische kulturwissenschaftliche Kodierungskompetenz, also eine neben dem akademischen Lesen, Schreiben und Denken zu erwerbende grundlegende Kulturtechnik zu entwickeln, namentlich Softwarecode zu lesen und kritisch einzuordnen, zu widerlegen oder fortzuschreiben. Nicht alles – um nicht zu sagen: das wenigste – Wissen lässt sich unmittelbar anwenden, geschweige denn in stimmige Zahlenwerte übersetzen. Wie bemisst sich die Wirkung eines Wissenschaftlers? Wer ist produktiver: Der Kollege, der zehn siebenseitige Texte in achtfacher Ko-Autorschaft in «triple A rated journals» pro Jahr publiziert, oder jener, der einen Text zu 700 Seiten im renommierten Traditionsverlag pro Jahrzehnt verfasst? Es ist leicht, den Sieger zu küren: zehn zu eins für jenen, dessen nie geschriebene Bücher allerdings auch nach 100 Jahren niemand mehr aus den virtualisierten Buchregalen gezogen haben wird. Die Halbwertszeit des Wissens wächst mit sinkender Seitenzahl.

Genau hier aber liegt das eigentliche – zu Neudeutsch – «asset» einer Institution wie der Universität, die immer etwas grundsätzlich anderes bleibt als ein Unternehmen: in der langen Dauer des Wissens ebenso wie in seiner Genese, in der Distanz zu den Moden, in der Herausforderung und Lust, gegen den Mainstream zu denken und wider den Ruf nach sofortiger Nutzanwendung zu forschen. Darin liegt das Potenzial von «universitas»: als Gemeinschaft der mehr als nur zwei Kulturen. Doch Universalität greift man nicht zwangsläufig in Regelstudienzeit ab, und vor allem lässt sie sich nicht direkt nach dem Bachelor in ökonomischer Schlichtheit auf die restliche Welt anwenden.

Was hilft weiter? Eine Lektüre von Heideggers «Sein und Zeit», die über zwei Seiten hinauskommt, erschliesst rasch eine Komplexität von Relationen, die vergleichbar ist mit der Entdeckung einer neuen Software-API für die Code-Entwicklung, wo man die geballte, global distribuierte Denkarbeit von 50 Vollzeitäquivalenten in 500 Zeilen komprimiert vor sich sieht. Was hilft, ist die programmatische Komplexitätsverdichtung, statt die Entdifferenzierung oder Vereinfachung. Es ist die verfeinernde Sprache und gesteigerte Abstraktion statt das radebrechende Runterbrechen. Wenn es etwas gibt, das man nach dem Studium gewinnbringend anwenden kann, ist das der souveräne Umgang mit Komplexität.

Vielleicht muss der Stolz einer Universität darauf zielen, ein solches Bekenntnis zum Vielschichtigen und Widerständigen zu entwickeln und differenziertere Auflösungen zu privilegieren, um nicht bloss zu unterscheiden zwischen Gott und dem Nichts. Aber auch den Blick zu schärfen für die analogen Zwischenstufen mit ihrem Graubereich zwischen Gleissen und Nacht, wo sich ganze Welten eröffnen, die von dichotomer Vereinfachung verdeckt der Entdeckung harren.


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