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Dossier Migration – Menschen unterwegs (02/2016)

Schweizer Staudämme – eine Kulturgeschichte

Text: Samuel Schlaefli

Staudämme sind nicht nur technische Pionierleistungen. Für die Talbewohner, die bei ihrem Bau umziehen mussten, sind sie oft mit biografischen Brüchen und dem Verlust von Heimat verbunden. Die Webseite verschwundene-taeler.ch, die in Basel initiiert wurde, erzählt erstmals die Kulturgeschichte des Staudammbaus in der Schweiz.

Ein rostfarbenes Mühlerad, sorgfältig präparierte Trockenmauern, geborstene Dachbalken von verfallenen Ställen – all das kam im Winter 2012 wieder zum Vorschein, als der Lago di Lei, ein künstlicher See im Grenzgebiet zwischen Italien und Graubünden, für Wartungsarbeiten abgelassen wurde. 50 Jahre zuvor waren über ein Dutzend Alpen geflutet worden, zugunsten eines Stausees, der über ein Speicherkraftwerk künftig Strom für die Schweiz produzieren sollte. Solche Überbleibsel einer verschwundenen Zivilisation erinnern vielerorts im Land an ein Leben vor der Staumauer – und daran, dass solche Bauwerke weit mehr sind als nur Beton und Stahl.

«Ich fände es extrem einschneidend, wenn man von mir verlangen würde, meinen Heimatort zugunsten eines industriellen Projekts zu verlassen», sagt Sabine Eggmann, Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Sie und ihr Team haben sich in den letzten Jahren eingehend mit dem Bau von Wasserkraftwerken in der Schweiz auseinandergesetzt. Dabei wählten die Forschenden einen akteurzentrierten Blick aufs Thema: «Uns interessierten nicht in erster Linie die Bauwerke, sondern die vom Bau betroffenen Menschen.»

Das Forschungsprojekt mündete in die Webseite verschwundene-taeler.ch, die seit Februar dieses Jahres online ist. Darauf werden zehn Staudammprojekte, die zwischen 1920 und 1965 gebaut wurden, in neun Kapiteln beschrieben und verglichen – mit besonderem Blick auf die damaligen Entscheidungsträger und die Auswirkungen auf die Menschen, die von den Bauten betroffen waren.

Beherrschte Natur auf der Grimsel: Die Absperrbauwerke wurden als monumentale Skulpturen und architektonische Meisterwerke gefeiert. (Foto: Ernst Brunner, © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde)
Beherrschte Natur auf der Grimsel: Die Absperrbauwerke wurden als monumentale Skulpturen und architektonische Meisterwerke gefeiert. (Foto: Ernst Brunner, © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde)

Fotografien als Anstoss

Angefangen hatte alles mit den Fotografien von Ernst Brunner im Archiv der Schweizerischen Gesellschaft für Völkerkunde (SGV) in Basel. Brunner zog in den 1940er- und 1950er-Jahren durch die ländliche und alpine Schweiz und fotografierte dort Menschen und ihr Handwerk. Darunter waren auch die Staudamm- Bauarbeiter von Cleuson VS und Grimsel BE. Die Kulturwissenschaftlerin Pierrine Saini befasste sich in ihrer Dissertation vertieft mit dem Bild- und Filmarchiv der SGV und stiess auf Brunners Fotografien. Sie hatte selbst bereits viele Staumauern und -seen fotografiert und war von Brunners Bildern fasziniert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Webprojekt startete sie eine umfassende Archivrecherche. In vierjähriger Arbeit trug sie Radiobeiträge, audiovisuelle Dokumente, Zeitzeugenberichte, Listen mit Kompensationsleistungen für Umgesiedelte, Liedertexte von Bergarbeitern und Fotos zum Staumauerbau in der Schweiz zusammen. Viele ihrer Fundstücke sind über die Website nun erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich.

Um zusätzliches Material aufzuspüren, betrieb Saini auch eigene Feldforschung. So zum Beispiel in Salanfe im Kanton Wallis auf fast 2000 Meter ü. M., wo sie den See, die Staumauer und die noch sichtbaren Ruinen des gefluteten Dorfes fotografierte. Über die Auberge vor Ort kam sie in Kontakt mit Nicolas Mettan, einem Kenner der Geschichte des Staudamms, der über die Jahre eine persönliche Sammlung mit historischen Dokumenten und Fotografien zum Thema angelegt hat. Mettans Mutter gehörte noch zu denjenigen Bewohnern, die den Alpsommer jeweils im Dorf verbracht hatten, das später dem künstlichen See zur Stromproduktion weichen musste. Saini konnte sie zu ihren Erfahrungen befragen. «Ihre Erinnerungen an die Zeit, als sie die alte Heimat aufgeben musste, waren schmerzhaft. Von den Jahren davor erzählte sie nostalgisch und leicht idealisierend – auch wenn das Leben auf der Alp beschwerlich und arm war.» 

Die Bilder der gigantischen Baustellen zeigen den Eintritt der Schweiz in die Modernität und die Ära des technischen Fortschritts: Bau einer Staumauer auf der Grimsel. (Foto: Ernst Brunner, © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde)
Die Bilder der gigantischen Baustellen zeigen den Eintritt der Schweiz in die Modernität und die Ära des technischen Fortschritts: Bau einer Staumauer auf der Grimsel. (Foto: Ernst Brunner, © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde)

Krawall in Andermatt

Oft waren es arme Bauern, die ihre Alpen aufgrund von Staumauerbauten aufgeben mussten. Teilweise wurden lange Verhandlungen über passende Ersatzstandorte und die Höhe von Kompensationszahlungen geführt. In den armen und verschuldeten Gemeinden formierte sich meist nur wenig Widerstand gegen die geplanten Staumauern. Manche Sozialwissenschaftler führen das darauf zurück, dass dafür schlicht das soziale, kulturelle und ökonomische Kapital fehlte. Hinzu kamen die Anforderungen der Zeit: «Die grossen Bauprojekte waren während des Kriegs ein wichtiger Beitrag zur ‹geistigen Landesverteidigung ›. Sie wurden zum Bestandteil einer starken Schweizer Identität und zum Garant für die sichere Energieversorgung und Autonomie», erklärt Saini. Manche Bauern begrüssten den Neuanfang sogar. Für sie eröffneten sich neue Einkommensquellen, vor allem im Tourismus, der durch die Seen und die verbesserte Infrastruktur aufkam.

Eine Ausnahme zu den überwiegend friedlichen Umsiedlungen ging als «Krawall von Andermatt» in die Geschichte ein: 2000 Einwohner sollten im Urserental in Andermatt im Kanton Uri für einen See – sechsmal so gross wie der Hallwilersee – umgesiedelt werden. Am 19. Februar 1946 jagten 300 Andermattner den am Projekt beteiligten Ingenieur Karl Fetz aus dem Dorf und verwüsteten das Büro des zuständigen Architekten. Nach 30-jährigen Planungsarbeiten wurde das Vorhaben Anfang der 1950er- Jahre schliesslich begraben.


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