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Osteuropa – Von Kostümen, Konflikten und Kulturräumen (02/2015)

«Der Krieg in der Ukraine hat auch in der Schweiz tiefe Gräben aufgerissen»

Interview: Ivo Mijnssen

Im Gespräch mit UNI NOVA erklärt Frithjof Benjamin Schenk die Hintergründe des Ukraine-Konflikts und dessen Auswirkungen auf die Schweizer Universitätslandschaft.


Herr Schenk, im Osten der Ukraine herrscht ein Bürgerkrieg auf Sparflamme. Weshalb ist es so schwierig, diesen zu beenden?

Ich finde beide Begriffe unangebracht. Der erste verschleiert die massive Intervention Russlands mit Waffen und Kämpfern, ohne die es nie zu einem Krieg in diesem Ausmass gekommen wäre. Der zweite verdeckt, dass in der Ostukraine fast täglich Menschen sterben. Es wäre sehr einfach, den Krieg zu beenden, wenn sich die Konfliktparteien an die Ziele des Minsker Abkommens halten würden.

Prof. Frithjof Benjamin Schenk (Foto: Universität Basel, Basile Bornand)
Frithjof Benjamin Schenk vor der Bibliothek Lieb in der Universitätsbibliothek Basel. © Universität Basel, Basile Bornand

Aber wie konnte ein Konflikt, der als innenpolitische Auseinandersetzung begonnen hat, derart eskalieren?

Die innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen der Protestbewegung auf dem Kiewer Maidan und dem Regime von Viktor Janukowitsch waren eng mit der Frage der aussenpolitischen Orientierung der Ukraine verbunden. Auslöser der Proteste war dessen Entscheidung, das ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen. Die weitere Entwicklung mit der Eskalation der Gewalt, dem Sturz Janukowitschs und der Annexion der Krim ist bekannt.

Und wie würden Sie die Rolle des Westens sehen? Ist er mitverantwortlich für die Situation?

Ich würde höchstens sagen, dass die Politiker im Westen nicht begriffen haben, dass die Westintegration der Ukraine für Russland eine rote Linie darstellte.

Weshalb ist die Ukraine denn für Russland so wichtig?

Im historischen Bewusstsein der Russen gilt Kiew als die «Mutter der russischen Städte». Es gibt viele gemischte Ehen, viele Russen betrachten das Ukrainische nicht als eigene Sprache, sondern als Dialekt des Russischen. Auch wirtschaftlich sind die beiden Länder stark verbunden. Für Putins Projekt einer eurasischen Wirtschaftsunion hat die Ukraine eine Schlüsselfunktion. Zudem betrachten viele Menschen in Russland die Ukraine als «natürliche» Interessensphäre ihres Landes. Jegliche Westbindung des Nachbarn wird hier als Gefahr betrachtet.

Tatsächlich heisst Ukraine «Grenzland». Das heutige Staatsgebiet war historisch immer wieder umkämpft. Wie konnte sich da eine ukrainische Identität entwickeln?

Die Geschichte der ukrainischen nationalen Identität – wie übrigens die nationalen Bewegungen in fast allen europäischen Ländern – hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des Zarenreiches und der Habsburgermonarchie kam es zur Gründung einer unabhängigen Ukraine, die jedoch bald im neuen sowjetischen Imperium aufging. Für die Festigung der nationalen Idee spielte die Sowjetunion jedoch überraschenderweise eine zentrale Rolle, da sie nationalstaatliche Strukturen und Kader förderte. Diese wurden 1991 zu den tragenden Kräften der Unabhängigkeitsbewegung.

Und wie haben die Ereignisse der letzten eineinhalb Jahre diese Identität verändert?

Viele sagen, der Krieg in der Ostukraine und der Kampf gegen einen gemeinsamen Feind im Osten habe die nationale Identität gefestigt. Offen ist aber, was mit jenen Menschen in der Ostukraine geschieht, die einen ukrainischen Pass besitzen, sich aber durch Krieg und Propaganda von der Regierung noch weiter entfremdet fühlen. Die Re-Integration dieser Menschen ist eine Herkulesaufgabe.

Das Land ist geteilt – zwischen einer traditionell westlich und einer nach Russland ausgerichteten Hälfte. Lässt sich dieser Graben zuschütten?

Ich glaube, das Bild einer Zweiteilung ist eine extreme Vereinfachung. Viele Regionen passen nicht in dieses West-Ost-Schema, wie Kiew oder die Hafenstadt Odessa. Hier sprechen grosse Teile der Bevölkerung Russisch und identifizieren sich mit dem ukrainischen Nationalstaat. Aber ja, die Ukraine wird als nationales Projekt nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Mehrsprachigkeit ihrer Staatsbürger nicht als Problem, sondern als Stärke begreift.

Bei solch grundlegenden Fragen ist schnell eine historische Perspektive gefragt. Wie erleben Sie das gewachsene Interesse an Ihrer Arbeit?

Das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien ist seit letztem Jahr deutlich gestiegen. Auf der einen Seite freut mich das. Andererseits hätte ich mir gewünscht, dass dafür nicht ein Krieg mit Tausenden von Toten nötig gewesen wäre.

Sollten sich denn Historiker überhaupt mit tagespolitischen Fragen befassen?

Ich finde tatsächlich, dass es viel zu wenige Politologen in der Schweiz gibt, die sich mit der Region befassen. Was die Erklärungskraft der Geschichte angeht: Wir sollten nicht vergessen, dass der aktuelle Konflikt aus Entscheidungen von Menschen in der Gegenwart resultiert, die auch hätten anders handeln können. Gleichzeitig wird in Russland und der Ukraine immer wieder die Geschichte bemüht, um die eigene Politik zu rechtfertigen. Hier müssen Historiker auf Fälschungen und deutliche Instrumentalisierungsversuche hinweisen.

Unter den Osteuropa-Historikern hat die Ukraine-Frage ja auch zu scharfen Kontroversen geführt. Wo liegen hier die Bruchlinien?

Es gibt Fachkollegen, die dafür plädieren, Russland Verständnis zum Beispiel für die Annexion der Krim entgegenzubringen. Den Putin-Kritikern werfen sie vor, sie hätten ein idealisiertes Bild der Ukraine. Auf der anderen Seite stehen Osteuropa-Historiker, die davor warnen, Verstehen und Rechtfertigen gleichzusetzen.

Wo stehen Sie in dieser Diskussion?

Natürlich ist es wichtig, Russland und die Gründe für sein Handeln zu verstehen. Gleichzeitig müssen wir die Dinge klar beim Namen nennen: Die Annexion der Krim war ein Bruch des Völkerrechts, die «Krise» in der Ostukraine ist ein nicht deklarierter Krieg. Staatliche Souveränität und territoriale Integrität sind zentrale Grundlagen des Friedens in Europa. Dazu sehe ich keine Alternative.

Und wie bringt sich der Fachbereich Osteuropa in Basel ein?

Durch die Organisation von Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen und durch Beiträge in den Medien. Diese Veranstaltungen waren immer sehr gut besucht, die Diskussionen teilweise auch explosiv. Unsere Kernaufgaben sind aber die wissenschaftliche Forschung und die Arbeit mit den Studierenden.

Welchen Einfluss hat man da?

Das ist schwer zu sagen. Mich hat es immer wieder betroffen gemacht, wie viele Menschen mit festgefügten Weltbildern zu Diskussionsveranstaltungen kommen. Dabei vermisst man häufig die Bereitschaft, zuzuhören und die Meinungen von anderen zur Kenntnis zu nehmen. Hier zeigte sich mir, dass der Krieg in der Ukraine auch in der Schweiz tiefe Gräben aufgerissen hat. Die Universität kann und sollte Foren bieten für wissenschaftlich fundierte Informationen, für kontroverse, aber faire Diskussionen.

Zurück zur Ukraine selbst: Das Land leidet noch immer unter Korruption und einem oligarchischen System. Ist dies historisch bedingt?

Die gewaltigen Probleme und Herausforderungen sind nicht zu leugnen oder schönzureden. Viele dieser Herausforderungen haben historische Wurzeln – zum Beispiel prägt die frühere Zugehörigkeit der Landesteile zu unterschiedlichen Staaten bis heute die Politik. Andererseits, das ist mir wichtig zu betonen, gibt es auch hier keine historische Zwangsläufigkeit. Die Menschen entscheiden selbst, ob sie bestechen oder der Korruption die Stirn bieten.

Wird es gelingen, diese Probleme zu lösen?

Historiker weisen gerne darauf hin, dass sie für die Vergangenheit und nicht für die Zukunft zuständig sind. Mit Prognosen tun auch wir uns schwer. Ob die Reformen in einem Land gelingen, das im Kriegszustand ist, das Geld in seine Armee und Flüchtlingshilfe und nicht in Bildung, Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftsförderung steckt, ist eine offene Frage.

Und worauf hoffen Sie persönlich?

Dass es uns gelingt, die Sprachlosigkeit zwischen dem Westen und Russland, zwischen Ukrainern und Russen, zwischen Putin- und Ukraine-Verstehern zu überwinden. Die grossen Aufgaben des 21. Jahrhunderts, von denen uns die Flüchtlingsströme einen ersten Eindruck geben, werden wir in Europa nur gemeinsam lösen können, also auch mit Russland. Insofern wäre ganz Europa zu wünschen, dass man sich bald wieder auf Grundlagen für ein friedliches Miteinander besinnt.

Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Das Foto zeigt ihn vor der Bibliothek Lieb in der Universitätsbibliothek Basel. Die Sammlung geht auf den Basler Theologen Fritz Lieb (1892–1970) zurück und umfasst rund 13'000 Monografien, Periodika und Handschriften aus den Gebieten der slawischen Geistes-, Kirchen- und Wirtschaftsgeschichte. Das Interview wurde Ende August 2015 geführt.

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