Psychologie-Studierende schlüpfen in die Rolle von Coaches

Weg vom Hörsaal, rein in die Praxis: Im Seminar «Gesprächsführung und Beratung» sammeln Studierende erste Erfahrungen in psychologischer Beratung. Drei Studentinnen erzählen, wie es ist, selbst in die Rolle einer Coachin zu schlüpfen.
Die 22-jährige Lena L. steht zwischen zwei Welten: dem vertrauten Zuhause und dem offenen, unbekannten WG-Leben. Der Wunsch nach Selbstständigkeit trifft auf die Angst vor dem Ungewissen – ein innerer Zwiespalt entsteht, den viele kennen.
Mit genau solchen Herausforderungen setzen sich Aila Aegerter, Anna Bakalidou und Désirée Gemperli im Seminar «Gesprächsführung und Beratung» auseinander. In Rollenspielen nehmen sie abwechselnd verschiedene Perspektiven ein, mal als ratsuchende Frau L. und mal als unterstützende psychologische Coachin.
Coaching – eine neue Berufsperspektive
Coaching wird oft mit Business-Meetings oder Sporttrainings assoziiert, aber nur selten mit Psychologie. Auch für die drei Studentinnen war psychologisches Coaching lange kein klarer Karriereweg. «Gerade deshalb freut es mich, den Studierenden in diesem Seminar einen ersten Zugang zu diesem Feld zu eröffnen», sagt Dozentin PD Dr. phil. Cosima Locher.
Obwohl sich Coaching und Psychotherapie in manchen Methoden ähneln, gibt es klare Grenzen. Cosima Locher, Coaching-Psychologin (SSCP FSP) mit Fokus auf Persönlichkeitsentwicklung, erklärt: «Im Unterschied zur Psychotherapie geht es beim Coaching nicht um die Behandlung psychischer Erkrankungen oder das Aufarbeiten tiefliegender Ursachen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr lösungs- und zukunftsorientierte Gespräche zu konkreten Lebensfragen – sei es im Beruf, in der Beziehung oder im privaten Alltag.»
Im Seminar lernen die Studierenden, ein Beratungsgespräch von Grund auf aufzubauen – Schritt für Schritt. Dabei durchlaufen sie alle zentralen Phasen einer psychologischen Beratung: von der Auftragsklärung und dem Beziehungsaufbau über konkrete Gesprächstechniken bis hin zur Zieldefinition und abschliessenden Reflexion der Sitzung.
Praxis in der Light-Version
Im Bachelor stehen Vorlesungen klar im Vordergrund – Seminare sind eher die Ausnahme. Der grosse Vorteil vom kleineren Rahmen im Seminar ist, dass dieser mehr zum Mitdenken einlädt.
Beim Seminar von Cosima Locher sind reale Fälle im Fokus: Im ersten Teil des Seminars präsentiert sie Fallbeispiele, verknüpft diese mit theoretischen Inhalten und stellt passende Methoden vor. «Ich habe das Gefühl, enorm davon zu profitieren, dass ich hier im Seminar gezielte Fragen zu den Fallbeispielen stellen darf», sagt Désirée. Das helfe nicht nur dabei, theoretische Inhalte besser zu verstehen, sondern ermögliche auch erste Einblicke in die praktische Anwendung. «Mit der tatsächlichen Berufspraxis ist es dennoch nicht gleichzusetzen», ergänzt sie.
Probieren geht über studieren
Besonders geschätzt wird daher der zweite Kursteil, denn dann heisst es: Selbst ausprobieren statt nur zuhören – ganz nach dem Prinzip «Learning by Doing». In Einzelübungen, etwa zu dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, der Stärkung von Ressourcen, oder dem Durchführen eines Gestaltdialogs, sammeln die Studierenden erste Erfahrungen mit Tools, die später in der Beratung entscheidend sein können. Anna erinnert sich noch gut an den Auftakt: «Wir sollten uns eine Minute lang schweigend in die Augen schauen – eine echte Herausforderung, wenn man sich noch gar nicht kennt. Aber auch ein super Eisbrecher!»
Was zunächst spielerisch wirkt, hat Methode: Mit diesen Übungen werden die Studierenden gezielt auf die Rollenspiele vorbereitet – dem Herzstück des Kurses. In Dreiergruppen schlüpfen die Studierenden abwechselnd in die Rolle der Coaches, der Klient*innen oder der Beobachter*innen und wenden ihre neuen Fähigkeiten direkt an. So wird Theorie Schritt für Schritt zur Praxis.
Vom Seminarraum in das Coaching-Setting
«Zum ersten Mal in die Rolle der Therapeutin zu schlüpfen und alles ausprobieren zu dürfen, war einfach genial!», erzählt Aila. Die Neugier war gross, endlich selbst aktiv werden zu dürfen. Doch der Start ist für viele eine Herausforderung: Sich als Klient*innen zu öffnen oder als Coaches erste Schritte zu wagen, fiel nicht immer leicht.
Als Klient*innen bestimmen die Studierenden ihre Themen selbst – mal persönlich, mal erfunden. Als Coaches reagieren sie darauf und setzen Methoden aus dem Kurs ein. So entstehen mit jedem Rollenwechsel unterschiedliche Gespräche. «Manche bleiben oberflächlich, andere gehen richtig in die Tiefe. Dabei merkt man schnell, was einem liegt und was nicht», sagt Aila. Besonders eindrücklich sind die Übungen, die in echten Therapieräumen stattfinden. «Das ist ganz anders als im Seminarraum. Plötzlich fühlt sich die Rolle noch realer an», ergänzt Anna.
Ein Seminar mit bleibendem Eindruck
Diese Erfahrungen geben den Studierenden nicht nur Selbstvertrauen, sondern machen ihnen auch deutlich, was später auf sie zukommt. «Man bekommt ein erstes Gefühl dafür, wie viel Verantwortung man einmal tragen wird», sagt Aila. «Deshalb habe ich auch weiterhin grossen Respekt vor meinem ersten echten Gespräch, auch wenn ich mich dem heute deutlich besser gewappnet fühle.» Désirée ist ebenfalls von ihren Fortschritten überrascht: «Während einer Übung als Coachin wurde mir bewusst, dass vieles schon ganz automatisch klappt. Das hätte ich mir vorher nicht zugetraut.»
Das Seminar hinterlässt auch im Alltag Spuren. Anna erzählt: «In der ersten Sitzung lernten wir, wie man Probleme anspricht. Das wende ich seitdem gelegentlich auch für mich selbst an.» Bestätigt das das Klischee, dass Psychologiestudierende alles Gelernte ständig auf ihr eigenes Leben übertragen? Aila lacht und sagt: «Ein bisschen stimmt das vielleicht, aber eher, weil man plötzlich Theorien in ganz alltäglichen Situationen wiedererkennt. Es geht nicht darum, alle anderen zu durchleuchten.» Also: Entwarnung!