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Leben in Stadt und Land (01/2018)

Überholte Sesshaftigkeit

Text: Samuel Schlaefli

Der Anspruch an Migranten und Migrantinnen, sich an ihrem neuen Wohnort zu engagieren, wird ihrem Mobilitätsverhalten und ihren Motivationen oft nicht gerecht.

Die Idee war fortschrittlich: eine App fürs Smartphone, über die alle Bewohner und Bewohnerinnen besser erreicht und ins Quartierleben integriert werden sollten, auch Neuzuzüger und solche mit beschränkten Deutschkenntnissen. Informationen zu Kleingewerbe und Verkaufsaktionen sollten mit Neuigkeiten, zum Beispiel aus den Stadtteilsekretariaten, angereichert werden. Doch nach mehreren Planungssitzungen und einem Prototyp wurde die Idee auf Eis gelegt – die App konnte der sozialen Komplexität vor Ort vorerst nicht gerecht werden.

Falsche Prämissen

Die Kulturanthropologin Ina Dietzsch von der Universität Basel hat die Planungen zur Quartier-App begleitet und die Probleme beim Entstehungsprozess genauer analysiert: «Die Sprache, technische Fertigkeiten, die Erreichbarkeit von Armutsbetroffenen, die keinen dauerhaften Internetzugang haben – diese Herausforderungen können gemeistert werden», sagt Dietzsch. Doch: «Das Hauptproblem waren falsche Prämissen.»

Für Dietzsch stehen die Probleme der App stellvertretend für die Problematik von Projekten, die das Miteinander verschiedener Gruppen im Viertel fördern wollen. Während ihrer Feldforschung im Matthäusquartier, bei Gesprächen mit Städteplanerinnen und Quartierkoordinatoren sowie beim Mitwirkungsverfahren erlebte sie oft den impliziten Anspruch: Möglichst alle Bewohner und Bewohnerinnen sollen an der Gestaltung des Quartiers partizipieren. Dies beruhe auf einer «normativen Sesshaftigkeit», sagt Dietzsch. Kleinräumliche Zusammenhänge wie Quartier oder Nachbarschaft seien positiv konnotiert und würden mit Identifikation, Beziehungspflege und einer Erwartung an Engagement für den gemeinsamen Lebensraum gleichgesetzt. Mobilität hingegen werde in Basel oft als Problem behandelt: «Die Stadtverwaltung und die Quartiervereine wollen mit ihren Aktivitäten Langfristigkeit und eine lokale Verankerung herstellen. Doch Menschen, die ein mobiles Leben führen und deren Erfahrungshorizont transnational ist, wollen nicht zwingend am Quartierleben teilnehmen.»

Trinationale Hochzeiten

Als Beispiel nennt Dietzsch die kurdische Diaspora, die sie gut kennt und die vor allem im Matthäusquartier stark präsent ist. Sie führte Gespräche mit Kurdinnen und Kurden, besuchte Hochzeiten und begleitete Familien in die Südosttürkei – mit dem Ziel, mehr über deren Mobilität, mediale Vernetzung und Gemeinschaft zu erfahren. «Die in Basel wohnhafte Diaspora ist sehr stark trinational vernetzt», erzählt Dietzsch: «Nicht das Quartier, sondern Familiennetzwerke im Dreiländereck und besonders gemeinsame Hochzeiten sind für viele wichtige soziale Orte.» Hinzu komme ein anderes Politikverständnis: Der jahrzehntelange politische Kampf für einen eigenen Staat habe dazu geführt, dass der politische Horizont vieler Kurden und Kurdinnen stärker europäisch und weniger regional geprägt sei.

Was sollten Städteplanerinnen und Quartiervereine also tun? Sollen sie ihre Anstrengungen aufgeben, möglichst viele in einem Quartier lebende Gruppen an Entscheidungen zu beteiligen? «Nein», sagt Dietzsch entschieden. «Aber wir sollten davon ausgehen, dass Umwelt für jeden Einzelnen etwas anderes bedeuten kann – und die Partizipation stärker auf die Motivation von Menschen beziehen und weniger von aktuellem Wohnort oder Herkunft ableiten.»

Für Menschen, die im Matthäusquartier wohnen, jedoch nicht wissen, ob oder wie lange sie bleiben, oder die oft unterwegs sind, mache die Beteiligung an einem zeitintensiven städteplanerischen Mitwirkungsverfahren unter Umständen wenig Sinn. Dagegen könne jemand sein Interesse für die Stärkung von nachbarschaftlichen Strukturen auch in einem Viertel einbringen, in dem er oder sie selbst nicht wohnhaft ist, sagt Dietzsch: «Generalisierende und typisierende Formen der Partizipation sind durch die zunehmende Diversität in Städten zum Scheitern verurteilt.»


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