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Leben in Stadt und Land (01/2018)

«Das Recht darf sich der Realität nicht verweigern»

Interview: Urs Hafner

Die Revision des über 100-jährigen Erbrechts ist überfällig, weil sich die Familienformen geändert haben. Der Bundesrat hat seinen Entwurf präsentiert. Dieser sei nicht genügend durchdacht, findet der Rechtswissenschaftler Roland Fankhauser. Er wünscht sich zudem vom Bundesrat mehr Mut.

Roland Fankhauser, Professor für Zivilrecht und Zivilverfahrensrecht. (Bild: Universität Basel, Basile Bornand)
Roland Fankhauser, Professor für Zivilrecht und Zivilverfahrensrecht. (Bild: Universität Basel, Basile Bornand)

UNI NOVA: Herr Fankhauser, die Menschen werden gleich geboren, sagt die Erklärung der Menschenrechte. Aber einige erben ein Vermögen, während andere leer ausgehen. Ist das gerecht?

ROLAND FANKHAUSER: Alle Menschen werden vom Recht gleich behandelt, das ist ein Grundstein des Verfassungsrechts. Inwiefern die Verteilung des materiellen Besitzes unter den Menschen gerecht ist, ist letztlich eine politische Frage. Tatsache ist, dass die Erbvorgänge, so wie sie heute geregelt sind, die bestehenden Vermögensverhältnisse eher perpetuieren: Rund 10 Prozent der Erben erhalten rund 75 Prozent der Gesamtvererbungssumme. Allerdings sorgt der Gesetzgeber mit dem Erbrecht in gewissem Mass dafür, dass keine feudalistische Vermögenskonzentration stattfindet, dass also die Vererbung nicht konzentriert und einseitig erfolgt.

UNI NOVA: Das Erbrecht greift also in private Besitzverhältnisse ein?

FANKHAUSER: Ja. Das Recht und damit auch das Erbrecht soll die Grundlagen für eine friedliche Gesellschaft schaffen und Streitereien um das Familienerbe verhindern. Darum begrenzt der Gesetzgeber die Freiheiten des Erblassers, also des Verstorbenen, sein Vermögen vollständig nach eigenem Gutdünken zu verteilen. Ob dem Gesetzgeber diese Befriedung durch das Recht tatsächlich gelingt, ist jedoch kaum erforscht.

UNI NOVA: Der traditionell bürgerlich dominierte Staat betreibt Besitzzersplitterung?

FANKHAUSER: In gewisser Weise ja. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen «gewillkürtem » und «gesetzlichem Erbrecht». Im ersten Fall liegt ein Testament vor, im zweiten nicht – wie oft tatsächlich «testiert » wird, wissen wir nicht. Die Freiheit des Erblassers wird durch Pflichtteile beschränkt: Den Kindern, dem überlebenden Ehegatten beziehungsweise eingetragenen Partner und den Eltern wird ein bestimmter Anteil des Erbes garantiert. Der Verstorbene kann diese Angehörigen nicht leer ausgehen lassen. Und je weiter verwandtschaftlich entfernt ein von ihm bestimmter Erbe ist – der Lieblingsneffe oder eine von ihm verehrte Künstlerin zum Beispiel –, desto höher fällt die Erbschaftssteuer aus. So fliesst ein Anteil des Vermögens an die Gesellschaft.

UNI NOVA: Wieso?

FANKHAUSER: Der Gesetzgeber begünstigt und fördert Vermögensübergänge in der Familie und schützt diese.

UNI NOVA: Das bestehende Erbrecht wird nach über 100 Jahren zum ersten Mal umfassend revidiert, was angesichts der vielen neuen Familienformen überfällig ist. Aufgrund einer Motion hat der Bundesrat nun einen Entwurf vorgelegt, der den gesellschaftlichen Realitäten gerecht werden will. Der Lebenspartner, der nicht mit dem Verstorbenen verheiratet war, und Stiefkinder sollen nicht mehr leer ausgehen. Was halten Sie von diesem Entwurf?

FANKHAUSER: Die Vorlage regelt sinnvolle technische Details und führt neue Institute ein, ist aber alles in allem zu wenig reflektiert und bedenkt die Begleitfolgen nicht.

UNI NOVA: Im Vernehmlassungsverfahren lehnte die SVP den Revisionsvorschlag ab, weil er die traditionelle Familie schwäche, die SP dagegen begrüsste ihn, weil er die Patchwork-Familien berücksichtige. Sind Sie gesellschaftspolitisch konservativ?

FANKHAUSER: Meine politische Haltung tut in diesem Fall nichts zur Sache, es geht um meine Einsichten als Wissenschaftler. Das Recht muss offen sein für soziale Veränderungen wie eben die Pluralisierung der Lebens- und Familienformen. Es darf sich der Realität nicht verweigern. Die standardisierte Musterfamilie – das heterosexuelle, lebenslang verheiratete Ehepaar mit zwei Kindern –, die gewissen politischen Kreisen als Ideal vorschwebt, gibt es in der Realität immer weniger, weil offensichtlich immer mehr Leute in komplexeren Konstellationen leben. Aber der Revisionsvorschlag des Bundesrats reagiert auf diese Veränderungen zu zaghaft. Der Vorschlag sagt: Wir erhöhen die Freiheit und den Gestaltungsspielraum des Erblassers und verkleinern demgegenüber die Pflichtteile. Der Erblasser kann also seine faktische Lebenspartnerin, mit der er im Konkubinat lebt, und deren Kinder testamentarisch in seinem Erbe berücksichtigen.

UNI NOVA: Und wenn der Verstorbene kein Testament geschrieben hat, geht dann seine Lebenspartnerin leer aus?

FANKHAUSER: Da liegt meiner Einschätzung nach genau das Problem: Die vorliegende Revision geht nicht genug weit, weil der nicht eheliche Lebenspartner nur im «gewillkürten», nicht aber im «gesetzlichen Erbrecht» berücksichtigt wird. Die Revision sieht zwar vor, dass der leer ausgehende Lebenspartner gegen die Erben klagen kann, aber das muss er spätestens drei Monate nach dem Todesfall tun. Ich nehme nicht an, dass eine Klage noch in der Trauerzeit zur friedlichen Stimmung unter den Hinterbliebenen beiträgt. Trauernde in eine Klägerrolle hineinzudrängen, scheint mir unangemessen. Zudem dürften nicht einmal ansatzweise geklärte prozessuale Probleme auftreten.

UNI NOVA: Das revidierte Erbrecht verfehlt also seinen Beitrag zur Befriedung der Gesellschaft?

FANKHAUSER: Hinsichtlich des Konkubinatspartners ja. Die Revision verpasst die Chance, diesem ein gesetzliches Erbrecht einzuräumen. Das erstaunt mich, da der Gesetzgeber in anderen Bereichen mutiger ist, etwa bei der gemeinsamen elterlichen Sorge, dem Betreuungsunterhalt oder in Zukunft vielleicht bei der mittlerweile breit akzeptierten «Ehe für alle». Und was die angeblich vergrösserte Freiheit des Erblassers betrifft, die der Bundesrat ins Feld führt: Sie klingt zwar gut, denn wer ist schon gegen mehr Freiheit? Aber: Wird diese Freiheit tatsächlich genutzt werden? Wir wissen es nicht, das ist Spekulation; es gibt dazu keine Forschung. Und zudem: Die grössere Freiheit des Erblassers erhöht die Gefahr der «Diktatur der kalten Hand».

UNI NOVA: Diese kalte Hand gehört, nehme ich an, dem Toten?

FANKHAUSER: So ist es. Wenn der Erblasser mehr Freiheiten besitzt, kann er die Vererbung seines Eigentums besser steuern, was bedeutet, dass seiner Willkür weniger Grenzen gesetzt sind. Er kann also über die Geschicke seines Vermögens bis weit über seinen Tod hinaus bestimmen – das wird die «Diktatur der kalten Hand» genannt. Auch diese Möglichkeit entspricht kaum der Befriedungsaufgabe des Erbrechts. Je kleiner die Pflichtteile sind, desto grösser dürfte das Risiko der Ungleichbehandlung und damit des Zwists unter den Erbberechtigten sein.

UNI NOVA: Wie kommt es, dass der Bundesrat eine derart unausgegorene Vorlage präsentiert?

FANKHAUSER: Das kodifizierte Recht ist oft das Resultat eines Kompromisses zwischen verschiedenen Ansichten und widerstreitenden Interessen. Die Politik spielt immer ins Recht hinein, ob wir Juristen das nun wollen oder nicht. Kompromisse sind aber kein Garant für eine widerspruchsfreie und wertungskonsistente Gesetzgebung. Gerüchten zufolge wird ein Handel zwischen Linken und Rechten zu einer weiteren Neuerung führen: Im Gegenzug zur Besserstellung der Konkubinatspaare soll die Vererbung von Familienunternehmen privilegiert behandelt werden. Der Besitzer eines Unternehmens kann dieses einem ihm geeignet erscheinenden Nachkommen übertragen, ohne dass die andern Pflichtteilserben Ausgleichsansprüche haben dürfen.

UNI NOVA: Das heisst: Der übernehmende Erbe muss nichts abgeben?

FANKHAUSER: Nicht nichts, sondern sogar weniger, indem beispielsweise das Unternehmen tiefer bewertet wird. Ist aber dieses Sondererbrecht gerechtfertigt? Empirische Daten dazu haben wir keine. Ist es gesamtwirtschaftlich gesehen tatsächlich schädlich für eine Firma, wenn sie nach dem Tod ihres Besitzers in familienfremde Hände gerät? Ist die neue Regelung im Interesse der Gesamtgesellschaft? Wir wissen es nicht. Zudem würde sich die Frage stellen, wieso zum Beispiel Grundstückseigentümer nicht ebenfalls privilegiert werden.

UNI NOVA: Eigentlich wissen die Juristen oft nicht sehr viel ...

FANKHAUSER: Gesichertes Wissen zu den Realien des Rechts, wie wir sagen, liegt in der Tat in vielen Bereichen nicht vor und ist nur schwierig zu gewinnen. Leider sind Juristinnen und Juristen in der Rechtstatsachenforschung kaum geschult. Derartige Forschung benötigt viel Zeit, die kaum mehr zur Verfügung steht. Gleiches gilt für die Reflexion: Auch sie würde sorgfältige und zeitraubende Diskurse benötigen. Früher wurden diese in Expertenkommissionen geführt. Der Gesetzgeber möchte dies aber nicht mehr tun, er führt nur noch punktuell bilaterale Gespräche mit ausgewählten Experten.

UNI NOVA: Ich vermute, das Bundesamt für Justiz würde argumentieren, die professorale Gruppendynamik verkompliziere die Sache.

FANKHAUSER: Vielleicht hat das Bundesamt Recht – und doch denkt es kurzfristig. Wissenschaftler schauen sich eine Sache von verschiedenen Seiten an und nicht vorhersehbar entlang der Grenzen politischer Positionen. Sie reflektieren, räsonieren und wägen gegenseitig ihre Argumente, was viel Zeit braucht, am Ende aber zu durchdachten Lösungen führen kann. Das passt der Politik nicht, die früh ihren Einfluss ausüben will und möglichst schnelle Resultate braucht.

UNI NOVA: Die Revision des Erbrechts ist noch nicht zu Ende.

FANKHAUSER: Die parlamentarische Beratung wird einiges wieder umstellen, doch das neue Erbrecht wird nicht frei von Widersprüchen sein und uns Rechtswissenschaftlern noch viel Denkarbeit verschaffen.

Revision des Erbrechts

Das Erbrecht rührt an heikle Punkte: Tod, Besitz und Verwandtschaft. Es regelt den Übergang des Vermögens des Verstorbenen, des Erblassers, auf andere Personen, auf die Erbinnen und Erben. Das heute bestehende Erbrecht gilt unter Rechtswissenschaftlern schon länger als «Sorgenkind», wie es der Jurist Jean Nicolas Druey bezeichnete. Das Recht hat unverändert seit 1912 Bestand, seit dem Inkrafttreten des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs. Beauftragt durch eine Motion des früheren Zürcher Ständerats Felix Gutzwiller, passt der Bundesrat nun das Erbrecht den veränderten gesellschaftlichen Realitäten an. Aus juristischen Fachkreisen schlägt dem Entwurf viel Skepsis entgegen.

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