x
Loading
+ -
Mehr! (02/2021)

«Selbst Mathematiker verschätzen sich.»

Text: Tim Schröder

Viele Länder wurden vom schnellen Anstieg der Covid-19-Fallzahlen überrumpelt. Mathematiker Helmut Harbrecht über die mathematischen Grundlagen des exponentiellen Wachstums – und warum man es sich nur schwer vorstellen kann.

Schachbrett mit Reiskörnern
Eine indische Sage veranschaulicht exponentielles Wachstum. (Foto: iStock)

UNI NOVA: Während der Corona-Pandemie tauchte immer wieder der Begriff des exponentiellen Wachstums auf. Unter Wachstum kann sich jeder etwas vorstellen. Mit dem Begriff «exponentiell» ist es schon etwas schwieriger …

HELMUT HARBRECHT: Beim exponentiellen Wachstum geht es schlicht darum, dass etwas in einer festen Zeiteinheit um einen bestimmten Faktor zunimmt. Bei Corona geht es um die Zunahme der Zahl Infizierter innerhalb einiger Tage. Weil man mit dem exponentiellen Wachstum im Alltag nur selten konfrontiert ist, hat man meist keine wirkliche Vorstellung davon, wie unglaublich schnell dieses Wachstum sein kann.

UNI NOVA: Hätten Sie ein Beispiel, mit dem es anschaulicher wird?

HARBRECHT: Das klassische Beispiel ist eine indische Sage, nach der ein weiser Mann vor vielen hundert Jahren das Schachspiel erfand. König Sher Khan war so begeistert, dass er den Weisen zu sich rufen liess und ihn fragte, was er sich als Belohnung wünsche. Der antwortete, dass der König einfach auf jedem Feld des Schachbretts die Zahl von Reiskörnern verdoppeln solle – beginnend mit einem Reiskorn auf dem ersten Feld. Der König lachte über die scheinbare Einfalt des Weisen. Doch sein Schatzmeister wurde unruhig, weil ihm klar wurde, was das bedeutet: Auf das zweite Feld kamen zwei Körner, auf das dritte vier, auf das vierte acht und so weiter. Wenn man auf dem 25. Feld ankommt, sind es bereits mehr als 1,6 Milliarden Reiskörner. Und zum Schluss sind es weit mehr Reiskörner, als auf der Erde vorhanden sind. Die benötigte Anzahl Reiskörner ist grösser als 1019, was einer Eins mit 19 Nullen entspricht.

UNI NOVA: Und wie verhält es sich mit dem exponentiellen Wachstum bei Corona?

HARBRECHT: Da ist es etwas komplizierter. Fachleute gehen davon aus, dass eine Generation vier Tage dauert. Ein infizierter Mensch steckt ungefähr 3,5 andere an, sofern die Bevölkerung noch nicht immun ist. Nach vier Tagen sind es 3,5 Personen, die dann wiederum innerhalb von vier Tagen je 3,5 weitere anstecken: Also 3,5 mal 3,5, was 12,25 ergibt. Diese stecken wieder je 3,5 Personen an. 12,25 mal 3,5 sind fast 43 Neuinfizierte nach 12 Tagen. Und dann geht es weiter wie beim Schachspiel. Erstaunlich ist, dass sogar ich als Mathematiker mich beim exponentiellen Wachstum verschätze. Irgendwann sind die Zahlensprünge so gross, dass man bei der Grössenordnung komplett danebenliegt, wenn man nur einen einzigen Schritt vergisst. Das Gehirn des Menschen ist dafür einfach nicht geschaffen.

UNI NOVA: Also können Nicht-Mathematiker beruhigt sein, wenn sie sich so schwer damit tun?

HARBRECHT: Es ist tatsächlich so, dass auch viele Studentinnen und Studenten mit der mathematischen Beschreibung des exponentiellen Wachstums – der sogenannten e-Funktion – ihre Probleme haben. Hinzu kommt die Umkehrung der e-Funktion, der Logarithmus, der noch abstrakter ist. Für mich ist es immer sehr interessant zu erfahren, welches Wissen die Schüler mitbringen, bevor sie an die Universität kommen. Deshalb bin ich Beisitzer bei den mündlichen Maturprüfungen an der Kantonsschule Olten. Da erfahre ich unmittelbar, was die Schülerinnen und Schüler können. Besonders froh bin ich darüber, dass das Können der Schüler trotz des Corona-Lockdowns vergleichbar ist mit dem vor der Pandemie. Was man zum Thema exponentielles Wachstum auf jeden Fall mitnehmen kann, ist, dass eine Sache mathematisch sehr schnell sehr gross wird.

UNI NOVA: Wo nützt einem diese Erkenntnis im Alltag, jenseits der Pandemie?

HARBRECHT: Da könnte man beispielsweise die Zinseszinsrechnung nennen. Hier nimmt das Geld ebenfalls in einer fixen Zeiteinheit um einen festen Faktor zu, zum Beispiel um einen Zins von – wir sind mal optimistisch – zwei Prozent pro Jahr. Wenn Sie 100 Franken anlegen, haben Sie nach einem Jahr 102, nach dem zweiten 104,04 und nach dem dritten Jahr 106,13 Franken. Nach 35 Jahren hat sich die Geldeinlage verdoppelt. Natürlich ist es letztlich dann doch noch etwas komplizierter, wenn man etwa die Inflation, Gebühren und weitere Faktoren mit einrechnet.


Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

nach oben