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«Wir haben uns zu spät von der Tradition unseres Fachs emanzipiert»

Portrait of Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk
Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. (Foto: Universität Basel, Christian Flierl)

Die Invasion Russlands in die Ukraine erschüttert auch das Fach Osteuropäische Geschichte. Der Krieg führt zu verstärkter Selbstreflexion, sagt der Osteuropahistoriker Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk.

14. Februar 2023 | Urs Hafner

Portrait of Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk
Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. (Foto: Universität Basel, Christian Flierl)

Herr Schenk, Sie forschen zur Geschichte Osteuropas. Hat der russische Angriff auf die Ukraine Ihre Arbeit verändert?

Ja, der 24. Februar 2022 markiert für unser Fach eine Zäsur, auch wenn der russische Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 mit der Annexion der Krim begann. Seit der Invasion vor einem Jahr sind die Kontakte zu vielen russischen Kolleginnen und Kollegen abgebrochen, der direkte Zugang zu russischen Archiven ist unmöglich geworden. Innerhalb des Fachs haben die furchtbaren Ereignisse auch zur verstärkten Selbstreflexion geführt. Wir müssen uns fragen, warum wir den russischen Überfall nicht vorausgesehen haben.

Warum nicht?

Der Historiker Reinhard Koselleck hat den schönen Begriff «Erwartungshorizont» geprägt. Auch wir waren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/91 überzeugt, dass das europäische Friedensprojekt der Integration immer weitergehe und wir die Gräben zwischen Ost und West überwinden könnten. Wir wollten an die demokratische Entwicklung Russlands glauben. Dabei blendeten wir wiederholt Entwicklungen aus, die uns als Vorboten der heutigen Situation hätten erscheinen müssen: die brutalen Kriege in Tschetschenien und Syrien, die Unterdrückung von Demokratie und Zivilgesellschaft, die Vergiftung und Inhaftierung des Oppositionellen Alexei Nawalny oder die Drohungen Putins an die Ukraine.

Wenn Sie auf Ihre Arbeiten der letzten Jahre zurückblicken: Hätten Sie andere Schwerpunkte setzen müssen?

Ja und nein. Nun massive Selbstkritik zu üben, finde ich überzogen. Wir haben uns schon vor 2022 mit der Geschichte des russischen Imperialismus beschäftigt. Dabei haben wir jedoch die Folgen der Herrschaft für die Menschen an den Rändern des Imperiums vernachlässigt, etwa in der Ukraine, im Baltikum oder in Zentralasien. Unsere Arbeiten reproduzierten zu oft den Blick des Machtzentrums auf die «Peripherien».

Wieso ist das passiert?

In den achtziger Jahren hat uns der «Cultural turn» der Geisteswissenschaften dazu verleitet, die Militär- und Politikgeschichte geringzuschätzen. Manche idealisierten das russische Imperium gar als Modell für das friedliche Zusammenleben ethnisch heterogener Gesellschaften. Zudem haben wir uns zu langsam von der Tradition unseres Fachs emanzipiert. Die Osteuropäische Geschichte war lange gleichbedeutend mit russischer Geschichte, den Rest blendete sie aus. Die erste Fremdsprache, die Osteuropahistoriker lernten, war meistens Russisch, dann kam vielleicht noch eine zweite osteuropäische Sprache dazu. Wir gingen zum Studium nach Sankt Petersburg und Moskau, nicht nach Kiew, Minsk oder Vilnius.

Der Krieg ruft im Westen unterschiedliche Reaktionen vor. Sind in Ihrem Fach feindselige Lager entstanden?

Nein. 2014 brachten vereinzelte Stimmen noch Verständnis für die russische Annexion der Krim auf, nach dem 24. Februar 2022 sind diese aber verstummt.

Manche Beobachter sagen nun, sie hätten schon immer davor gewarnt, dass die Sowjetunion nie wirklich abgedankt habe.

Mir fällt auf, dass die Sowjetunion bei uns tatsächlich noch in vielen Köpfen herumspukt. Viele setzen sie immer noch mit «Russland» gleich. Dabei wird ignoriert, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerreich war und aus ihr fünfzehn souveräne Nachfolgestaaten hervorgegangen sind. Viele sprechen der Ukraine ihre Eigenständigkeit und Handlungsmacht ab und akzeptieren implizit Russlands imperialen Herrschaftsanspruch.

Haben Sie als Wissenschaftler jetzt auch eine politische Aufgabe?

Ich denke ja. Wir sollten den Elfenbeinturm der Universität verlassen und unser Wissen in die öffentliche Debatte einbringen. In der russischen Kriegspropaganda spielen historische «Argumente» eine wichtige Rolle. Diese können und müssen wir korrigieren und den Putin-Apologeten entgegentreten.

Arbeiten heute ukrainische Forschende, die in die Schweiz geflohen sind, an der Universität Basel?

Gleich nach der Annexion der Krim und dem versteckten Krieg Russlands im Donbass habe ich das Programm «Ukrainian Research in Switzerland» URIS gestartet. Schon damals realisierten wir, wie wenig wir über die Ukraine, ihre Geschichte, Politik und Kultur wissen. Seither arbeiten regelmässig Ukraine-Expertinnen und -Experten an der Universität und teilen ihr Wissen mit uns. Seit der Invasion sind rund dreissig Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dazugekommen, die aus der Ukraine geflohen sind. Sie forschen in verschiedenen Disziplinen, von der Psychologie bis zur Kunstgeschichte. Für uns ist ihre Expertise ein grosser Gewinn.

Wie ist die Lage für die Forschenden in der Ukraine?

Ich bin mit einigen früheren URIS-Fellows in Kontakt. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen sind wegen der russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur extrem schwierig. Im Osten des Landes ist die Situation katastrophal. Ich weiss nicht, wie die Menschen das dort schaffen.

Tagung und Podiumsdiskussion in Basel

Am 24. Februar 2023 findet an der Universität Basel die öffentliche Tagung Consequences of the Russian War of Aggression for Science and Research in Ukraine statt. Junge und arrivierte Forschende aus der Ukraine sprechen über die Folgen des Krieges für ihr Fach und ihre Heimatuniversitäten.

Im Anschluss beginnt um 18.15 Uhr in der Aula des Kollegienhauses die öffentliche Podiumsdiskussion Krieg gegen die Ukraine: Quellen des Widerstands und Visionen für die Zeit danach. Die Veranstaltung wird auch live über Zoom gestreamt und aufgezeichnet.

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