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Familien im Wandel. (02/2020)

«Chinas Parteistaat unterwandert den Westen gezielt.»

Interview: Urs Hafner

China ist politisch kommunistischer als noch vor 20 Jahren. Das Land konvergiert mit autoritären Bewegungen im Westen, sagt der Politikwissenschaftler und Philosoph Prof. Dr. Ralph Weber.

Prof. Dr. Ralph Weber. (Foto: Basile Bornand)
Prof. Dr. Ralph Weber. (Foto: Basile Bornand)

UNI NOVA: Herr Weber, der Westen lebt mit einem Feind in der Ferne besser. Hat China im 21. Jahrhundert die Sowjetunion abgelöst, die im letzten Jahrhundert wiederum an die Stelle des Osmanischen Reichs trat?

RALPH WEBER: Nein, das glaube ich nicht. Mit der Sowjetunion unterhielt der Westen kaum wirtschaftliche Kontakte, China hingegen ist sein wichtigster Handelspartner. Und wir haben es mit wenigstens zwei Chinas zu tun: Das eine ist das traditionelle, kaiserliche, für uns «exotische» China, das weit in die Geschichte zurückreicht. Das andere China fängt 1949 mit der kommunistischen Revolution an: die von der marxistisch-leninistisch ausgerichteten Partei diktatorisch geführte Volksrepublik.

UNI NOVA: Ist das autoritäre China nicht gerade die Fortsetzung des alten Kaiserreichs?

WEBER: Das sehen einige so: Xi Jinping, der Staatspräsident und – noch wichtiger – der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas als Kaiser mit «Himmelsmandat». Er bezieht sich zwar zuweilen auf den Taoismus und zitiert Konfuzius, aber natürlich immer so, dass es zur Ideologie der Partei passt. Diese steht über dem Staat. Wer in die Partei aufgenommen wird und wer nicht, bestimmt diese; wer die Einladung ausschlägt, wird kaum mehr Karriere machen. Und die Partei führt bis heute Kampagnen durch gegen Korruption und den Einfluss westlicher Bildung oder für die «Steigerung der Qualität der Bürger», wie das im Jargon heisst. Diese sollen sich nach dem Xi-Jinping-Denken ausrichten. Kurzum: Ich glaube nicht, dass die Analogie zum Kaiserreich hilfreich ist.

UNI NOVA: Der marxistisch-leninistische Kommunismus sah eine vernünftige Planwirtschaft vor, die das produziert, was die Menschen wirklich brauchen, China dagegen führt eine hyperkapitalistische Wirtschaft. Wie geht das zusammen?

WEBER: China ist staatskapitalistisch. Viele Unternehmen gehören dem Staat. Aber auch die von ihm zugelassene Privatwirtschaft wird kontrolliert. Wer erfolgreicher Unternehmer sein will, muss Parteimitglied sein. Ausländische Firmen haben zu akzeptieren, dass in ihren chinesischen Niederlassungen Parteimitglieder Einsitz nehmen. Die Unterscheidung «öffentlich» versus «privat», die wir kennen, besteht so nicht in China. Anfang der 2000er-Jahre machte es den Eindruck, als ob China seine Wirtschaft nach innen wie nach aussen liberalisieren würde. Im Westen erhoffte man sich davon auch politische Reformen, ganz nach dem Motto «Wandel durch Handel». Heute ist China wirtschaftlich kapitalistischer, aber politisch kommunistischer als noch vor 20 Jahren. Das ist im Westen und auch in der Schweiz zu wenig angekommen. Diese pflegt intensivere wirtschaftliche Beziehungen mit China denn je – Stichwort Freihandelsabkommen –, blendet aber die Menschenrechtsfrage allzu oft aus. Das geht nicht.

UNI NOVA: Sie beschreiben die Politik Chinas mit scharfen Worten. Es gibt nun allerdings viele Diktaturen auf dieser Welt. Die USA praktizieren die Todesstrafe, haben eine rassistische Alltagskultur und einen besonders sexistischen Präsidenten. Auch mit den USA pflegt die Schweiz Handelsbeziehungen. Müsste sie nicht auch hier auf die Menschenrechte pochen?

WEBER: Die USA führen übrigens auch noch Guantanamo … Was Sie machen, nenne ich die argumentative Einebnung der Wertedifferenz. Die USA sind bei aller berechtigten Kritik noch immer ein liberal-demokratischer Staat mit Gewaltenteilung, Wahlen und relativ unabhängigen Medien, welche die politische Macht kritisieren können. China dagegen wird von einer Partei beherrscht, die ausnahmslos alle Medien steuert und Worte wie «Gewaltenteilung» oder «Zivilgesellschaft» auf den Index setzt.

UNI NOVA: China ist kein westlicher Staat, seine Kultur historisch gesehen nicht «demokratisch». Wenden Sie nicht einen unpassenden Massstab an?

WEBER: Menschenrechte sind nicht verhandelbar, auch nicht pragmatisch abzuschwächen. Punkt. Werden Menschenrechte missbraucht, sollte das nicht die Idee der Menschenrechte desavouieren, sondern diejenigen, welche sie missbrauchen. Der Kommunismus, insbesondere Maos «grosser Sprung nach vorn» und die Kulturrevolution, bilden einen enormen Bruch in der chinesischen Geschichte. Mit der «Kultur» können Sie diese und jüngere Ereignisse in der Volksrepublik China nicht ausreichend erklären. Die Kulturrevolution ist in China nicht umsonst so tabuisiert. Sie ist ein nationales Trauma …

UNI NOVA: … das die Schweiz in ihren Handelsbeziehungen berücksichtigen sollte?

WEBER: Nicht das Trauma, die Menschenrechte. Zumal die Schweiz hier historisch eine besondere Verantwortung hat. Zudem war sie der erste westliche Staat, der die Volksrepublik China anerkannt hat, wie der Bundesrat gerne betont. Sie ist quasi vorgeprescht im westlichen Lager.

UNI NOVA: Die antikommunistische Schweiz ebnete dem kommunistischen China den Weg in den Westen: Wie kam das?

WEBER: Sicher spielten die Neutralität und die etablierte Praxis eine Rolle: Die Schweiz anerkennt einen Staat, sobald er sich konstituiert hat. Dann wollte der Bundesrat die Schweizer Geschäftsleute schützen, die sich vor allem in Schanghai aufhielten, sowie Missionare. Man darf nicht vergessen, dass Schweizer Unternehmen mindestens seit dem 18. Jahrhundert mit China Handel trieben. Den Anfang machten die Uhrenfirmen, später folgten die Chemie und die Pharmaindustrie, heute sind viele Unternehmen gar abhängig vom chinesischen Markt.

UNI NOVA: Was also soll die Schweiz tun?

WEBER: Ich sage nicht, welche Politik die Schweiz betreiben soll. Ich bin Wissenschaftler und versuche, in die gesellschaftliche Diskussion Sachwissen und Argumente einzubringen. In der Demokratie fällen aber bekanntlich der Souverän, die Gerichte, das Parlament und so weiter die Entscheide. Meine Analyse besagt: China verstärkt systematisch seinen Einfluss in der UNO, aber auch in einzelnen europäischen Ländern, und setzt systematisch den Multilateralismus unter Druck, indem es mit vielen Staaten Sonderabkommen abschliesst, die seinen Interessen dienen. Der Parteistaat unterwandert den Westen gezielt. Dagegen sollten sich Kleinstaaten wie die Schweiz wehren, indem sie Allianzen mit anderen Staaten oder der EU festigen, die UNO stützen – für die Verteidigung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit – und die Forschungsfreiheit hochhalten. Der Multilateralismus gerät durch China unter Druck, also muss man dagegenhalten, wenn man darin einen Wert sieht. Kleinstaaten profitieren vom Multilateralismus.

UNI NOVA: China infiltriert den Westen: Das klingt nach Verschwörungstheorie.

WEBER: Dieses Totschlagargument verhindert eine differenzierte Debatte. Ich sage nicht, dass das «totalitäre China» den «freien Westen» unterwerfen wolle. Es gibt einerseits mehr als ein China, und man muss zwischen dem Volk und der Partei unterscheiden. So scheint Xi Jinping mit seinem Personenkult oder der Aufhebung der Amtszeitbeschränkung vielen Chinesinnen und Chinesen zu weit zu gehen. Es gibt in China durchaus – selbstverständlich selten öffentlich – Kritik nicht nur daran, sondern auch an seinem Umgang mit Hongkong, der Covid-19-Epidemie oder an dem für das Land schädlichen Handelskrieg mit den USA. Und es gibt andererseits nicht nur den freien, rechtsstaatlichen Westen. Seit einigen Jahren kennen die liberalen Demokratien wieder verstärkt die autoritäre Versuchung: Trump, Ungarn, Polen, der Front national, die AfD und so weiter. Dieser Versuchung muss widerstehen, wem an der Demokratie gelegen ist. Die autoritären Bewegungen des Westens und das autoritäre China pflegen gegenseitig Kontakte. Die Kommunistische Partei Chinas spottet über Multikulturalismus und die verweichlichten liberalen Demokratien, die ihre Bevölkerungen und ihre Grenzen nicht im Griff hätten. Hier überlappen sich die Agenden. Und die Coronakrise scheint die Autoritären zu bestätigen: Hat China die Seuche nicht mit resolutem Durchgreifen in den Griff gekriegt?

UNI NOVA: Die meisten Autoritären leugnen Corona.

WEBER: Ich behaupte keine simple Dichotomie. Norwegens Rechtspartei arbeitet mit den Chinesen zusammen, Schwedens Rechtspartei drängt darauf, den chinesischen Botschafter aus dem Land zu weisen.

UNI NOVA: Wie lautet eigentlich die Position der offiziellen Schweiz?

WEBER: Der Bundesrat hat 2017 und 2018 festgehalten, die Menschenrechtslage in China habe sich verschlechtert, aber 2019 meinte Bundespräsident Ueli Maurer vor der Schweizer Presse in Peking, dass er nicht wisse, ob sich die Menschenrechtslage verschlechtert habe … Dabei ist bekannt, dass in China in den letzten Jahren Tausende von Menschen, darunter viele Menschenrechtsanwälte, spurlos verschwunden sind, von der stossenden Unterdrückung der Uiguren und Tibeter gar nicht zu reden.

UNI NOVA: Die Tibetfrage scheint aus der Schweizer Öffentlichkeit verschwunden zu sein?

WEBER: Das Jahr 1999 ist eine Wegmarke in der Tibetfrage und der Beziehung der Schweiz zu China. Damals herrschte eine Art Tauwetter. Das Land war auf dem Weg in die WTO, der Westen hoffte, dass die wirtschaftlichen Reformen politische nach sich ziehen würden. Und dann besuchte Präsident Jiang Zemin die Schweiz. Der Gesamtbundesrat empfing ihn in Bern. Aber es kam zum Eklat: Am Rande des Bundesplatzes demonstrierten Aktivisten gegen die chinesische Tibetpolitik. Dies erzürnte Jiang Zemin derart, dass er Bundespräsidentin Ruth Dreifuss entgegenschleuderte: «Sie haben einen guten Freund verloren.»

UNI NOVA: Was aber nicht passiert ist.

WEBER: In der Tat: Als Xi Jinping 2017 die Schweiz besuchte, wurden die Tibetdemonstranten von der Polizei präventiv ausser Sicht- und Hörweite geschafft. Dafür schwenkten von der chinesischen Botschaft bestellte Statisten chinesische Fähnchen. Die sogenannte Einheitsfront, zu der auch die chinesischen Studierendenvereinigungen zu zählen sind, ist ein in der Schweiz wenig bekanntes, aber vom chinesischen Parteistaat stark eingesetztes Mittel.

UNI NOVA: Stichwort Einheitsfront: Die Komintern, also die Kommunistische Internationale, hat sich doch längst aufgelöst?

WEBER: Die Komintern ja, nicht aber das dahinterstehende Prinzip, das China auf seine Weise noch heute anwendet. Seine Einheitsfront ist in vielerlei Gestalt, weltweit und auch in der Schweiz äusserst aktiv. Zudem ist bekannt, dass chinesische Behörden im Ausland auf ihre Bürger zugehen und von ihnen Kooperation einfordern oder sie – im Falle von Tibetern oder Uiguren – mit dem Verweis auf die in China verbliebene Familie einschüchtern. Wenn der Dalai-Lama in den USA auftritt, verlangen chinesische Studierende eine «Gegenveranstaltung» und berufen sich auf die Meinungsfreiheit. Die Fudan-Universität wiederum hat die «akademische Freiheit» aus ihren Statuten gestrichen und mit «Loyalität zu Xi Jinpings Denken» ersetzt. Darf man unter diesen Bedingungen noch wie gewohnt kooperieren? Ich meine nein. Aber wer den chinesischen Parteistaat kritisiert, exponiert sich. Schnell wird man im Westen als «antichinesisch» oder «rassistisch» bezeichnet, was nicht nur in der Sache absurd ist, sondern die von der kommunistischen Partei Chinas beanspruchte Interessenvertretung für das ganze Volk argumentativ reproduziert.

UNI NOVA: Rassismus gegenüber Chinesen ist allerdings verbreitet.

WEBER: Auf jeden Fall und nun teilweise sogar verstärkt durch Corona. Das ist inakzeptabel. Dennoch: Wir müssen die Diskussion über die Bedrohung der liberalen Demokratie mit ihrer Rechtsstaatlichkeit führen. Nur sind wir schlecht gerüstet. Es fehlt grundlegendes Wissen in der Gesellschaft, aber auch die wissenschaftliche Kompetenz. Wir müssen globale Akteure und Netzwerke mit neuen epistemologischen Zugängen erforschen.

UNI NOVA: Zahlreiche Universitäten im deutschsprachigen Raum bieten doch Sinologie-Studiengänge an?

WEBER: In der Schweiz hauptsächlich in Zürich und in Genf. Aber wir haben viel zu wenige Sinologen und Sinologinnen. Zudem wählen diese Fächer verständlicherweise oft «kulturalistische» Zugänge, das heisst, sie blenden die Machtfrage aus. Auch in der Politikwissenschaft hat man dem Autoritarismus zu wenig Beachtung geschenkt. In den letzten Jahrzehnten haben wir dort alle möglichen Demokratievarianten durchbuchstabiert – aber autoritäre Regimes, die global an Terrain gewinnen, verstehen wir noch zu wenig.


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