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Leben in Stadt und Land (01/2018)

Forschen – zum Wohl der Patienten

Text: Irène Dietschi

Mit der scheinbaren Leichtigkeit einer Konzertsolistin ist Viviane Hess eine herausragende Onkologin geworden. Am Universitätsspital Basel leitet die Medizinprofessorin unter anderem die klinische Krebsforschung. Sie sieht das System, in dem sie Karriere gemacht hat, durchaus kritisch.

Prof. Dr. Viviane Hess. (Bild: Universität Basel, Andreas Zimmermann)
Prof. Dr. Viviane Hess. (Bild: Universität Basel)

Nach den Referaten war an der Tagung ein Blitzinterview angesagt, und Viviane Hess, die über die Auswirkungen neuer Immuntherapien auf die klinische Krebsforschung gesprochen hatte, nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Die Studiendesigns dieser neuen Wirkstoffe seien sehr industrielastig, die Sicht von Ärzten und Patienten komme dabei zu wenig zum Tragen. Und: «Für uns Ärzte wird es immer schwieriger, alle Patienten nach den gleichen Massstäben zu behandeln und die Medikamente allen zugänglich zu machen. Das System ist oft willkürlich und ungerecht.» Ein Raunen ging durch den Saal, solchen Klartext hatten die Anwesenden nicht erwartet.

Jeden Tag unlösbare Probleme

«Ja, das ist meine Art», sagt Hess später und lacht: «Ich finde es nicht immer zielführend, sich den Normen anzupassen.» Wir befinden uns in der Klinik für Onkologie des Universitätsspitals, 8. Stock des Klinikums II, in ihrem kleinen Büro, das sie mit einem Kollegen teilt. Hess leitet die klinische Krebsforschung und befasst sich wissenschaftlich vor allem mit den Tumoren des Verdauungstrakts. Forschung sei in der Onkologie wesentlich, betont sie, denn: «Wir sehen jeden Tag Probleme, die wir nicht lösen können.»

Die Medizinerin trägt eine elegante, schwarze Jacke über der Bluse, an ihrem Hals baumelt als Anhänger ein kleines Streichinstrument. «Ein Cello», erklärt sie in breitem Zürichdeutsch, «meine zweite Leidenschaft neben der Medizin.» Auch ihre Kinder spielten alle ein Instrument, keines Cello, doch die eine Tochter Bratsche – immerhin, meint sie mit einem Lachen.

In der Onkologie, sagt Hess und faltet die Hände über den Knien, gebe es im klinischen Alltag nicht wenige schwierige Situationen abseits von Standards und Guidelines: «Für den Patienten gehts ja darum, einen Weg zu finden, der für ihn stimmt, der seine Individualität berücksichtigt.» Darauf einzugehen, gut zuzuhören, das sei neben der klinischen Expertise das Spannende in ihrem Beruf. Den Onkologen durch einen Computer ersetzen, der Diagnosen vornehme und daraus die optimalen Therapievorschläge ableite? Hess schüttelt lachend den Kopf. Nein, das könne bisher kein Computer.

Erstes Ziel Kinderärztin

Ursprünglich wollte sie gar nicht in die Onkologie. Die heute vierfache Mutter wollte eigentlich Kinderärztin werden. Die ersten zwei Jahre studierte sie nicht in Zürich, sondern in Lausanne. Dass die Prüfungen mündlich und in Französisch abgenommen würden, habe sie zwar erst im Nachhinein erfahren, doch es habe dann problemlos geklappt. Während des späteren Medizinstudiums in Zürich lernte sie auch ihren Mann kennen – über die Musik, denn beide spielen Cello. Und als medizinisches «Dual Career Couple» seien sie später nach Basel gekommen.

Hess verbrachte einige Monate auf der pädiatrischen Notfallstation, sie hätte, erzählt sie, im Kinderspital eine Ausbildungsstelle in Aussicht gehabt. Doch dann habe sie gemerkt: «In der Akutmedizin muss man Kinder häufig stechen oder sonstwie ‹plagen›, und die Kontakte sind eher kurz – das hat mich nicht befriedigt.» In der Onkologie wollte sie nur mal eben schnuppern, doch dann zog es sie ganz hinein.

Was sie besonders anspreche: die Evidenzbasiertheit der Onkologie – als einem der ersten medizinischen Fächer überhaupt, das dieses Prinzip eingeführt hat: «Ein Teil unserer Medikamente sind so giftig, da muss man wissen, ob neue Wirkstoffe verglichen mit Kontrollen wirklich etwas bringen.» Die exakte Art des Denkens, das genaue Messen, der Anspruch, aus Studien möglichst präzises Wissen zu generieren, das komme ihrem Naturell entgegen: «Zugegeben: Der menschliche Organismus ist sehr kompliziert, und man kann nicht sämtliche Bedingungen in einem einzigen Versuch kontrollieren. Aber», sagt sie und legt eine Pause ein: «nur weil etwas kompliziert ist, heisst das nicht, dass man es nicht möglichst sorgfältig untersuchen sollte. Je präziser die Resultate, desto besser kann ich sie auf den einzelnen Menschen anwenden.»

Mangelnde «Feinabstimmung»

Doch ebendiese Anwendung könne und müsse dann über die Evidenz auch herausgehen dürfen. Besonders deutlich zeige sich dies bei neuen Wirkstoffen wie den Immuntherapien: «Diese Medikamente funktionieren ganz anders als Chemotherapien – wir können zurzeit noch wenig zuverlässig voraussagen, bei wem sie nützen und bei wem nicht.» Das Problem seien vor allem die Nebenwirkungen: Das stimulierte Immunsystem räume zwar im Idealfall Tumorzellen aus dem Weg, richte sich aber manchmal auch gegen eigenes, gesundes Gewebe. «Es braucht noch ganz viel Forschung», sagt Hess. Und da kranke eben das heutige System: «Die Pharmafirmen untersuchen die Wirkstoffe bis zur Markteinführung – an krebskranken, sonst aber gesunden Probanden.» Doch wie ein Medikament etwa bei einem mehrfach kranken, älteren Patienten wirke oder wie andere Untergruppen darauf reagierten, um diese «Feinabstimmung» kümmere sich der Markt viel zu wenig.

Hess verfolgt neben der Forschungszusammenarbeit mit Firmen auch ihre eigenen Projekte. Ihr Fokus: mit nicht medikamentösen Interventionen die Wirkung von Medikamenten zu verbessern. So hat sie ein webbasiertes Programm mitentwickelt, das Krebspatienten hilft, besser mit Stress umzugehen. Zurzeit untersucht sie in einer grossen, multizentrischen Studie, ob Patienten mit Dickdarmkrebs die Chemotherapie besser vertragen, wenn sie gleichzeitig eine Physiotherapie bekommen.

Forschung habe ihr auch ermöglicht, Familie und Karriere zu vereinbaren. «Dank einer Forschungsprofessur hatte ich relativ viele Freiheiten», erzählt sie, «und für die klinische Arbeit habe ich meine Stellen mit Kollegen geteilt.» Die Vorzeigerolle in einer Doppelkarriere will Hess trotzdem nicht zugeteilt bekommen. Sie sehe das System der Medizinerlaufbahn auch kritisch. Oft sei es zu wenig fortschrittlich und flexibel, für Frauen ebenso wie für Männer: «Im Studium soll man auswendig lernen, bis man platzt, während der Assistenzzeit klinisch arbeiten bis zum Umfallen, dann gilt es viel zu forschen und zu publizieren, und ganz oben werden von den Professoren vor allem Managerqualitäten verlangt.» Auf diesem Weg verliere das System viele fähige Leute, Frauen wie Männer, sagt Hess – und redet auch hier Klartext.

Viviane Hess geboren 1971, ist Titularprofessorin an der Universität Basel, Leitende Ärztin an der Klinik für Onkologie und Leiterin der klinischen Krebsforschung am Universitätsspital Basel. Ihre Fachausbildung absolvierte sie unter anderem an der Harvard Medical School in Boston und am Royal Marsden Hospital in London. Nebst klinischer Tätigkeit und Forschung engagiert sie sich in der Nachwuchsförderung. Sie ist mit Prof. Dr. Christoph Hess verheiratet, Chefarzt der Ambulanten Inneren Medizin am Universitätsspital Basel. Das Paar hat vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Buben zwischen acht und 15 Jahren. 

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