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Bild und Freiheit (01/2017)

Von Erasmus zu Javascript

Text: Urs Hafner

Die Universität Basel positioniert sich als nationales Zentrum für die digitale Editionspraxis. Damit treibt sie die Neuerfindung der klassischen Edition voran, die am Rheinknie von Erasmus von Rotterdam begründet wurde.

Editionen stehen nicht im Ruf, «innovative» Unternehmen zu sein. Den vielbändigen, nach ausgewählten Standards erarbeiteten Werkausgaben, die in der Regel die gesamten Schriften einer Literatin oder eines Philosophen umfassen, haftet in der Digital-Ära der Ruf an, Vertreter des Gestern zu sein; zu langwierig, zu teuer, zu papieren.

Das schlechte Image ist indes unzutreffend, auch wenn die eine oder andere Edition auch schon an ihren überrissenen Ansprüchen gescheitert oder versandet ist. Eine abgeschlossene Edition ist noch immer ein Monument, in dem viel Arbeit und Überlegung stecken. Was dem Laien als simple Sache erscheint, nämlich ein Manuskript in eine maschinengeschriebene Druckfassung zu transformieren, ist in Tat und Wahrheit ein höchst anspruchsvolles Unterfangen, mit dem sich eine eigene Wissenschaft befasst, die Editionsphilologie. Editionen stellen die Überlieferung bedeutender Werke sicher und tradieren so das kulturelle Erbe.

Fundamente für die Forschung

Angriff ist die beste Verteidigung – und die Digitalisierung eine Chance. Die Universität Basel packt sie – und erneuert das Editionswesen. Ein Zufall ist das nicht: Im deutschen Sprachraum gilt die Schweiz als Editionshochburg, in der Schweiz wiederum hat sich Basel als Editionszentrum hervorgetan. Den Anfang setzte im 16. Jahrhundert der humanistische Gelehrte Erasmus von Rotterdam mit seiner Bibel-Edition. Die Vorwärtsstrategie wird vom Forum für Edition und Erschliessung (FEE) vorangetrieben, das an der Universitätsbibliothek Basel angesiedelt ist. «Wir möchten das Biozentrum Basel der gegenwärtigen Editionspraxis werden», sagt FEE-Geschäftsführer Samuel Müller. Das Forum etabliert sich als nationales Koordinationszentrum für die digitale Infrastruktur für Editionsprojekte, indem es – im Editionswesen ein Novum – die Geistes- und Naturwissenschaften sowie Text- und Bildwissenschaften zusammenbringt. Zudem soll es Fundamente für die geisteswissenschaftliche Forschung liefern: «Editionen sind eigentlich Grundlagenwissenschaft», sagt Müller.

Es gibt heute keine Edition mehr, die nicht in Teilen oder gar ganz digital ist, ob es sich nun um die Ausgaben der Werke von Johannes Atrocianus, Karl Barth, Walter Benjamin, den Bernoullis, Jacob Burckhardt, Leonhard Euler, Friedrich Nietzsche, Robert Walser, Anton Webern oder der Papyri der Universitätsbibliothek Basel handelt – die alle mit dem FEE verbunden sind. Die Vorteile digitaler Editionen gegenüber rein papierbasierten Ausgaben liegen auf der Hand: Man kann sie permanent erneuern und ergänzen, sie erlauben die einfache Volltextsuche und sie sind mit anderen Werken verlinkbar.

Fassungen, Varianten, Lesarten

«Das FEE bietet Editionen eine digitale Umwelt», sagt Markus Wild, Professor für Philosophie an der Universität Basel und FEE-Direktor. Dabei geht das Forum dreigleisig vor: Es stellt die digitale Edition der Texte sicher, indem es für diese eine «Basistechnologie» entwickelt und zur Verfügung stellt, es sichert die bei der Arbeit anfallenden Daten und es entwickelt als ein Akteur der Digital Humanities digitale Werkzeuge, die für alle Geisteswissenschaften von Nutzen sein können. Dabei arbeitet das Forum mit dem Digital Humanities Lab der Universität Basel zusammen.

Die Bandbreite der betreuten Projekte ist gross: Literatur, Musik, Philosophie, Bilder. Manche Editionen waren rein analog konzipiert, etwa die schon länger laufende Karl-Barth-Ausgabe. Sie wird nun in Kooperation mit dem FEE ins digitale Zeitalter überführt. Die Softwareentwickler müssen mit den herkömmlichen Editionspraxen vertraut sein. Editionen stehen nämlich in verschiedenen Traditionen und oft vor grossen Entscheidungen. Das eine, definitive Dokument, das man einfach so aus der Archivschublade ziehen und edieren beziehungsweise digitalisieren kann, gibt es nicht. Von vielen Texten existieren mehrere Fassungen, die an manchen Stellen verschiedene Varianten aufweisen. Der Entscheid, welche Fassung die gültige sei, muss gut begründet werden.

Ältere Texte sind oft nicht zweifelsfrei zu entziffern und lassen mehrere Lesarten zu. Auch ein gedruckt vorliegender Text macht die Angelegenheit nicht unbedingt einfacher. Manchmal haben der Verleger oder der Setzer gegen den Willen der Autorin Passagen geändert oder unter Zeitdruck auf den Druckfahnen vom Manuskript abweichende Varianten und gar Fehler eingefügt. Schliesslich stellt sich die Frage nach dem Werk: Was gehört dazu, was nicht? Man interessiert sich heute vermehrt für Briefe und Tagebucheinträge; gerade das Marginale kann sich als wichtig erweisen.

So wenig wie es den einen definitiven Text gibt, so wenig gibt es eine einheitliche Editionsphilologie. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lieferten sich verschiedene Schulen teilweise erbitterte Kämpfe um die richtige Praxis. Heute stehen sich vor allem zwei Strömungen gegenüber: die historisch-kritische und die textgenetisch-kritische. Erstere rekonstruiert den Textstand, den der Autor für den ersten Druck hergestellt hat, und erschliesst das Werk, indem sie Angaben zur Entstehung und Rezeption der Texte, zur Biografie des Autors und zum historischen Kontext liefert.

Risiken der Digitalisierung

Die textgenetisch-kritische Schule dagegen will den Werdegang des Texts möglichst genau abbilden; der Leser soll den Schreibprozess des Autors nachverfolgenkönnen. Die Kommentierung interessiert sie nicht. Eine weitere, am biologischen Modell der Phylogenese entwickelte editionsphilologische Richtung etabliert sich zurzeit für die Herausgabe mittelalterlicher Texte, die besondere Anforderungen stellen: Ihre Autoren schufen nicht ein Werk, sondern arbeiteten wie andere vor und nach ihnen an einem überlieferten Stoff, den sie weiter tradierten. Das macht die Frage nach dem Urtext vollends obsolet.

Die Digitalisierung schafft diese Schwierigkeiten nicht aus der Welt, aber sie entschärft sie. Das Medium erlaubt eine gewisse Flexibilität, etwa angesichts des zu berücksichtigen Textkorpus. Doch die Digitalisierung birgt Risiken: Programme veralten schnell, noch immer ist das Buch das sicherste Speichermedium, wie lange die digitalen Daten haltbar sind, weiss man nicht. Kürzlich mussten die Computer des 2009 abgeschlossenen «Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae» gehackt werden, ansonsten wären alle seine Daten verloren gewesen.

Dank dem FEE werde so ein Fall nicht mehr vorkommen, sagt Wild. Das Forum kümmere sich nicht nur um die Texte, sondern auch um die bei der Arbeit anfallenden Daten und Erkenntnisse, etwa um Annotierungen und Varianten. Edition sei Forschung, und deren Resultate würden künftig nach Abschluss einer Edition nicht mehr in einer Schublade vergessen gehen. Schliesslich werde das FEE als Teil der Digital Humanities deren Entwicklung mitvorantreiben und damit den Geisteswissenschaften von Nutzen sein, die sich alle mit der Digitalisierung auseinandersetzen müssten. Von der Programmiersprache Javascript etwa müssten heute auch Forschende der Geisteswissenschaften eine konkrete Vorstellung haben. Mit dem FEE, so hoffen Wild und Müller, soll das Editionswesen, das in der Vergangenheit am Rand der geisteswissenschaftlichen Forschung angesiedelt war, stärker in ihr Zentrum rücken.


Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

Basel als Hotspot für Editionen

Basel wird zum nationalen Hotspot für digitale Editionsprojekte. Treibende Kraft ist das an der Universitätsbibliothek Basel angesiedelte Forum für Edition und Erschliessung FEE. Zusammen mit den Universitäten Basel, Bern und Zürich und der Zentralbibliothek Zürich lanciert das Forum die Nationale Infrastruktur für Editionen – Infrastructure nationale pour les éditions (NIE-INE). Finanziert wird die Infrastruktur von Swissuniversities. Die technischen Grundlagen liefern das vom Staatssekretariat für Bildung, Wirtschaft und Innovation sowie von der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften initiierte nationale Datenzentrum Data and Service Center for the Humanities und das Digital Humanities Lab der Universität Basel.

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