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Bild und Freiheit (01/2017)

Kunst und materielle Kultur

Text: Isabel Zürcher

Paul Klee und Neue Typografie: Auf den ersten Blick mag man den Bildpoeten mit der Ästhetik moderner Drucksachen nicht in Verbindung bringen. Zwei Forschungsprojekte legen aber Gemeinsames offen: den Umgang mit der aufkommenden Standardisierung von Text- und Bildformaten und die Organisation von Arbeit.

(Bild: Universität Basel, Christian Knörr)
(Bild: Universität Basel, Christian Knörr)

Manchmal sind es unscheinbare Randzonen, die neue Fragen aufwerfen. So auch bei Paul Klee: Der Umgang des Künstlers mit dem Format seiner Bildschöpfungen ist Teil des Forschungsthemas von Johanna Függer-Vagts zur «Bildgrenzform». Die Verschmelzung von «Bild», seinen Rändern und ihrer formalen Struktur ist eine Wortschöpfung des Künstlers und in der nahsichtigen Untersuchung seines Schaffens ein wichtiges Indiz: Seine oft kleinformatigen Visionen hat der Künstler nicht als Ausblick oder Fenster in eine andere Welt erfunden. Vielmehr verdankt sich die Originalität seiner Kompositionen auch dem gezielten Umgang mit Übergängen. Zwischen Raum und Tisch, Tisch und Blatt, Blatt und Bild oder Bild und Schrift liegen zahlreiche, scheinbar marginale ästhetische Entscheidungen. Klee hat sie ernst genommen. Und sich überdies dem Versuch gestellt, bildnerische Gesetzmässigkeiten innerhalb seines Werks zu systematisieren.

Kunst an der Epochenschwelle

Insbesondere in den Papierarbeiten mit ihrer handschriftlichen Datierung, Nummerierung, Untertitelung und Signatur am Blattrand ist ein Künstler zu beobachten, der kein Detail (und schon gar nicht die Ränder) dem Zufall überlässt. Nicht nur der künstlerischen Darstellung, sondern auch dem materiellen Träger kommt eine Schlüsselrolle zu. Und das schon vor und während des Ersten Weltkriegs – einer Zeit, die im Begriff war, die Masse und Handhabung von Papier von Grund auf neu zu bestimmen. Stehordner, neue Registratursysteme und die bis heute gebräuchlichen DIN-Formate waren nur einige Mittel, mit denen man der sogenannten «Papierflut» beizukommen versuchte.

Függer-Vagts drängen sich angesichts der bildnerischen Befunde Fragen zum historischen Kontext der klassischen Moderne auf: Hat zum Beispiel die Umstellung auf die Kriegswirtschaft – Material- und Zeitknappheit, aber auch Mangel an Ruhe – ästhetische Konsequenzen nach sich gezogen? Die Frage ist aktuell, im Alltag wie in der Kunst. Sind wir doch selbst Zeugen eines fundamentalen Wandels in der Rezeption von Bildern und ihrem Verhältnis zu Sprache und Text. Der ökonomische Druck und unsere Mobilität haben transportable Büros hervorgebracht. Arbeitsprozesse lassen sich im Reisen fortsetzen, was Bewegungsräume neu definiert und auch die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Freizeit anders aufmischt. Daran, dass Lesen und Schreiben heute zu einem grossen Teil ohne Papier auskommen, haben wir uns schon fast gewöhnt. Stand jedoch schon vor 100 Jahren die Kunst von Klee an einer Epochenschwelle?

Papierverbrauch vervielfacht

Hier berührt sich Függer-Vagts’ Untersuchung mit jener des Wissenschaftshistorikers Fabian Grütter. Er befasst sich mit der Geschichte von Papier- und Gestaltungsstandards. Für diese war Klees Arbeitsort, das Bauhaus, in der Zwischenkriegszeit nicht unwichtig: «Dass das alltägliche Setting unserer Arbeitsplätze und Büros heute so aussieht, geht im Wesentlichen auf Standardorganisationen wie das DIN und dessen industrielle Partner zurück. Prominenterweise gehörte zu diesen auch das Bauhaus.»

Das ausgehende 19. Jahrhundert hatte die Produktion und den Verbrauch von Papier um ein Vielfaches gesteigert. Die Vereinheitlichung von Drucksachen zwecks effizienter «Geistesarbeit» sollte sich auf Mobiliar und Arbeitsplätze auswirken. War der «Kontor», hergeleitet vom französischen «comptoir», noch ein Stehtisch gewesen, der die Arbeit in Stapeln organisierte, strebte das Büro nach der Jahrhundertwende eine Infrastruktur an, die Papiere griffbereit in Fächern und Schubladen ablegen liess.

Der Bauhaus-Funktionalismus hatte aber auch Auswirkungen auf ästhetische Normen, auf die Organisation von Schrift und Bild in Printmedien und Werbung. Diese Neuerungen, ja Umwälzungen sind innerhalb der Bauhaus-Typografie bisher oft mit dem «Neuen Sehen» in Verbindung gebracht worden. Die Bedeutung jener Ikonen der Moderne wie Collagen, grafische Objekte, Schrift im Dienst von Firmen und Produkten ist in zahlreichen programmatischen Texten von Gestaltern verbürgt. Grütter aber sieht von diesen Quellen ab und wendet sich vor allem den Materialien zu: Wie war Arbeit in den Büros vor 100 Jahren organisiert? Welche Einrichtungen dienten einer gesteigerten Effizienz und mit welchen Konsequenzen für die Praxis des Schreibens? Die moderne Typografie stellt sich vor solchen kulturhistorischen Fakten nicht allein als revolutionäre ästhetische Erneuerung dar, sondern als Ergebnis, ja sogar Endpunkt einer Entwicklung, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm.

Format und ästhetische Innovation

Beide Forschungsprojekte sind im selben Zeitraum verankert, beide haben es mit Formatierungen zu tun, und beide verfolgen visuelle Innovationen nicht nur im Sinn der künstlerischen Autorschaft, sondern vor dem Hintergrund kulturgeschichtlicher Veränderungen. Der Austausch der beiden Projekte lag darum auf der Hand. Er erlaubt, die einzelne, oft sehr nahsichtige Untersuchung in einem breiteren Kontext zu verankern. «Klar», meint Grütter mit Blick auf Függer-Vagts’ kunstwissenschaftliche Arbeit, «Fragen der Formatierung von Papier hatten nicht nur einen Einfluss auf die Entwicklung der modernen Typografie.» Seine Kollegin wiederum erkennt einen Gewinn, wenn sie die materielle Kultur – die stummen Artefakte von Papier und Schreibwerkzeugen – auf die Lektüre von Klees Bilderfindungen beziehen kann: «Das Wissen um die gesamte materielle Kultur des Büros erweitert den engen Fokus und erlaubt es, den Protagonisten Paul Klee im gesamtgesellschaftlichen Kontext seiner Zeit anzusehen.»

War der zeichnende, schreibende, malende Künstler der Vereinheitlichung von Papierformaten gegenüber positiv eingestellt? Oder lag ihm daran, gleichsam gegen die Norm anzuzeichnen? Die Veränderungen, welche die Räume der modernen Administration nach der Jahrhundertwende durchlaufen haben, waren ihm bekannt. Klee hat am Bauhaus gelehrt, wo angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen – etwa der industrialisierten Warenproduktion – das gestalterische und künstlerische Experiment eine Herausforderung darstellte. Er war auch einer, den der tägliche Umgang mit der Ausstattung des modernen Büros zu einer eigenen künstlerischen Strategie führte. Und dem der Nachweis gelang, dass kein Standard den Zauber und die Freiheit der Zeichnung verbannen kann.


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