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Bild und Freiheit (01/2017)

Die Welt wahrnehmen

Text: Ralph Ubl

Es gibt sowohl die Bilder, die wir uns von der Freiheit machen, als auch die Freiheit, die wir durch Bilder erlangen. Eine Übersicht zum Thema anhand von bildtheoretischen Hintergründen und Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen.

Prof. Ralph Ubl. (Illustration: Studio Nippoldt)
Prof. Ralph Ubl. (Illustration: Studio Nippoldt)

Wer nach dem Verhältnis von Bild und Freiheit fragt, steht zunächst vor einer verwirrenden Vielfalt von Gesichtspunkten. Je nachdem, was unter Freiheit und unter Bild verstanden wird, eröffnen sich andere Problemhorizonte. Wenn von Freiheit die Rede ist, können das Aufbegehren gegen politische Unterdrückung, die Ausübung bürgerlicher Rechte oder moralische Selbstbestimmung, aber auch das entfesselte Spiel der ökonomischen Kräfte oder die autonome Entfaltung der Kunst gemeint sein. Nicht weniger vielfältig ist die Verwendung des Ausdrucks Bild: Einer versteht darunter Gegenstände, die im Kunstmuseum gesammelt und ausgestellt werden, ein anderer jene Datenmengen, die in Formaten wie TIFF oder JPEG gespeichert sind, ein Dritter denkt an «innere» Bilder des Denkens oder der Fantasie.

Sorgfältige Begriffsklärung ist gefordert, um zwei so anspruchsvolle und viel diskutierte Konzepte in ein fruchtbares Verhältnis zueinander zu bringen. Ihre Beziehung ist freilich keine rein theoretische. Geisteswissenschaftliche Forschung beginnt nie an einem idealen Standpunkt, von dem aus der Blick ungehindert rundum schweifen könnte. Ein Thema tritt vielmehr zutage, erhält durch die Umstände, unter denen es sich aufdrängt, einen eigenen Zuschnitt, und kann seine Bedeutung aufgrund unerwarteter Entwicklungen auch rasch verändern. Als etwa der Europarat 1986 beschlossen hatte, die 21. Europaratsausstellung den «Zeichen der Freiheit» zu widmen, konnte noch keiner der Kuratoren erahnen, welche Aktualität diese Schau bei ihrer Eröffnung 1991 im Bernischen Historischen Museum durch die Ereignisse von 1989 erhalten sollte.

Bilder und Gewalt

Auch heute sind es aktuelle Entwicklungen, die das Nachdenken über Bild und Freiheit vor neue, sich rasch wandelnde Herausforderungen stellen. Sie sind ungleich weniger erfreulich als 1989. Bilder stehen seit mehr als einem Jahrzehnt im Zentrum kultureller, politischer und auch gewalttätiger Auseinandersetzungen, in denen die Zukunft der Freiheit auf dem Spiel steht.

Eines der Fortschrittsversprechen der Moderne bestand darin, gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Bildern und um Bilder ein Ende zu setzen. Die Bilderstürme der Reformation und später der Französischen Revolution mündeten in die Gründung von öffentlichen Sammlungen und staatlichen Museen. Sie dienten der Bewahrung auch solcher Bilder, die das aufgeklärte Publikum aus religiösen oder politischen Gründen eigentlich ablehnen musste. Im distanzierten Interesse an den Idolen und Machtsymbolen der Vergangenheit konnte die eigene religiöse und politische Freiheit genossen werden. Das Museum entwickelte sich zum Ort, an dem eine Gesellschaft, die sich aufgrund ihrer Freiheit als fortschrittlich und überlegen verstand, die Bildzeugnisse ferner Epochen und Kulturen sammelt und studiert.

Diese bürgerlich-liberale «Einhegung» der Bilderwurde nicht nur durch die Bildpropaganda der Revolutionen, totalitären Staaten, Kriege und Genozide des 20. Jahrhunderts fundamental infrage gestellt.

Sie provozierte auch selbst Gegenreaktionen, die ebenso vehement wie vielfältig ausfielen. Die Avantgarde verachtete die historische und ästhetische Distanz als Abkehr von der Zukunft. Die postkoloniale Kritik brachte die Verstrickungen der autonomen Kunst in die gewaltsame Enteignung nichtwestlicher Kulturen zutage. Schliesslich haben die bildpolitischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit – von der Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan und den Fotografien aus Abu Ghraib bis zum Anschlag auf «Charlie Hebdo» und den Gräuelvideos des sogenannten «Islamischen Staats» – bei aller Unterschiedlichkeit eines drastisch vor Augen geführt: dass das Verhältnis von Bild und Freiheit mit der modernen Befriedung und Distanzierung der Bilder keineswegs geklärt ist.

Abstand zur Wirklichkeit

Geht vom Bild also eine eigentümliche Gewalt aus, die in der Moderne nur notdürftig kontrolliert wurde? Müssen wir aufgeklärte Europäer einsehen, dass Bilder nicht einfach Repräsentationen, sondern selbst Akteure sind, die sich in unsere soziale und politische Wirklichkeit einmischen? Diese heute verbreitete Annahme muss sich den Einwand gefallen lassen, dass die überwiegende Mehrzahl aller Bilder untätig und unbemerkt in den Speichern unserer Smartphones und in anderen Archiven ruht. Es sind nur wenige Bilder, die unter je spezifischen Umständen mit einer besonderen Macht ausgestattet werden. Für die meisten heute geschaffenen und bewahrten Bilder gilt hingegen, dass sie Zeugnisse einer im historischen Vergleich neuartigen Freiheit sind, die wir jedoch für so selbstverständlich halten, dass wir sie kaum bemerken.

Ob Bilder Ausdruck der menschlichen Freiheit sind, ist eine in der Bildtheorie viel diskutierte Frage. Zweifellos verhält es sich so, dass Bilder einen Abstand zur Wirklichkeit eröffnen, der ihren Betrachtern erlaubt, die eigene Position zu reflektieren und unter Umständen auch zu verändern. Ein schockierendes Ereignis, das wir selbst beobachten, lähmt uns. Ein Pressebild desselben Ereignisses lässt uns vermutlich nicht einfach kalt, aber es bietet eine fremde Sichtweise auf das Geschehen, nämlich die des Fotografen, die wir annehmen oder auch ablehnen können. Wenn dieses Bild zudem den Standpunkt des Fotografen besonders hervorkehrt, zum Beispiel durch die Wahl des Ausschnitts, so vermag es vor Augen zu führen, dass jedes Geschehen ganz unterschiedlich erfasst werden kann. Es lässt uns spüren, dass wir die Welt immer nur partiell wahrnehmen – und damit auch anders wahrnehmen können.

So oder auch anders

Diese Freiheit der Bilder tritt zwar besonders deutlich hervor, wenn ein Bild eine neue oder ungewohnte Sichtweise darbietet. Sie zeichnet jedoch nicht nur künstlerisch oder dokumentarisch anspruchsvolle Werke aus, sondern ist viel tiefer im zeitgenössischen Leben verankert. Knapp 600 Jahre nach Erfindung der Perspektive werden heute weltweit die meisten Bilder, mit denen wir es in unserem Alltag zu tun haben, automatisch nach ihren Regeln produziert. Standpunkte, Abstände und Ausschnitte zu unterscheiden und zu verändern, verlangt keine besondere Expertise, sondern gehört zur selbstverständlichen Routine in der digitalen Bearbeitung von Fotografien und Filmen. Als Konsumenten digitaler Technologien benötigen wir nur einen Mausklick, um mithilfe von Bildern die Welt so oder auch anders wahrzunehmen.

Diese Freiheit kann den verschiedensten Zwecken dienen. Ob sie die moralische, politische oder künstlerische Freiheit fördert, ist daher nur von Fall zu Fall zu entscheiden. Dass wir aber über Technologien verfügen, die es fast jedem Menschen erlauben, zwischen unterschiedlichen Sichtweisen zu wechseln, sie für sich und andere zu verändern, sowohl zu manipulieren wie auch zu kritisieren, hat für unser Verständnis von Freiheit zweifellos Konsequenzen.


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