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Rechner der Zukunft (02/2017)

«Wir leben in einer Klassengesellschaft»

Interview: Urs Hafner

Die Menschen müssten offen über ihre unterschiedlichen ökonomischen Interessen streiten, findet der Soziologe Oliver Nachtwey. Die Klassengesellschaft sei nie vorbei gewesen.

Prof. Oliver Nachtwey. (Foto: Universität Basel, Christian Flierl)
Prof. Oliver Nachtwey. (Foto: Universität Basel, Christian Flierl)

Oliver Nachtwey ist neuer Professor für Soziologie an der Universität Basel. Anfang August, ein paar Tage nach seinem Arbeitsbeginn, ist sein Büro am Petersgraben nicht einfach zu finden, weil es noch nicht angeschrieben ist. Der Raum sieht frisch renoviert aus, das leere Regal wartet auf das erste Buch. In der Ecke steht der Aluminiumkoffer bereit für die Wochenendreise nach Frankfurt, wo Nachtwey noch wohnt. Er werde bald in die Stadt Basel ziehen, betont der junge Soziologe, bevor er Kaffee und Wasser serviert, er wolle hier leben und sich einbringen. Eben habe er sich spontan das erste Mal in den Rhein gewagt. Er trägt einen modischen Haarschnitt, Bart und Anzug, am Handgelenk eine elegante deutsche Uhr.

UNI NOVA: Herr Nachtwey, fühlen Sie sich in der Schweiz wie im Sozialismus?

OLIVER NACHTWEY: Den Sozialismus stelle ich mir ein wenig anders vor … Die Lebensqualität hier ist sehr hoch. Als Kind war ich ein paar Mal im Wallis in den Ferien, wo es mir jeweils sehr gut gefiel.

UNI NOVA: Ich hatte weniger an das Befinden als an Zahlen gedacht: Die Rechtsliberalen behaupten, wir würden im Sozialismus oder Semi-Sozialismus leben, weil die Staatsquote über 50 Prozent betrage.

NACHTWEY: (lacht) Die Staatsquote, also der Anteil des Bruttoinlandprodukts, der durch staatliche Hände geht, ist ein höchst ungenaues Mass, um sozialistische oder auch nur soziale Verhältnisse zu bestimmen. In Deutschland ist die Staatsquote nach den sozialstaatlichen Kürzungen kaum gesunken. Eine hohe Staatsquote kann für Verschiedenes stehen: für viel Bürokratie, für hohe Militärausgaben, für niedrige Löhne, die staatliche Transferleistungen erfordern. Da muss man genau hinschauen. Eine Gegenfrage an die Rechtsliberalen könnte lauten: Ist die hohe Staatsquote auch dann ein Übel, wenn der Staat imstande ist, marode Banken vor dem Untergang zu retten und die Volkswirtschaft vor grösserem Schaden zu bewahren? 

UNI NOVA: Lassen wir also die Sozialismusfrage offen. In Ihrem aufsehenerregenden Buch über die «Abstiegsgesellschaft» beschreiben Sie plausibel, wie in Europa die unteren Mittelschichten und die Unterschichten verarmen, während die Oberschichten ökonomisch zulegen. Leben wir wieder in einer Klassengesellschaft?

NACHTWEY: Wir haben schon immer in einer Klassengesellschaft gelebt, sie kehrt nicht zurück – wobei ich die Verhältnisse in der Schweiz noch zu wenig kenne, um qualifizierte Aussagen machen zu können. Die westlichen Gesellschaften jedenfalls sind nach wie vor durchzogen von strukturellen Asymmetrien, die Merkmale von Klassengesellschaften sind: Die ökonomischen und kulturellen Ressourcen sind ungleich verteilt und reproduzieren sich ungleich. Von den Fünfziger- bis in die Achtzigerjahre schien es, als würden die Klassenunterschiede an Bedeutung verlieren – der Soziologe Ulrich Beck hat von der «Fahrstuhlgesellschaft» gesprochen: Ökonomisch ging es allen immer besser. Aber selbst damals blieben die strukturellen Unterschiede bestehen.

UNI NOVA: Das Wirtschaftswunder hat den Blick der Wissenschaft getrübt?

NACHTWEY: Eine Zeit lang, ja. Und nun haben die sozialen Klassen wieder an Sichtbarkeit gewonnen: Die Reichsten und Mächtigsten, also die obersten fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, stellen ihren Wohlstand unverhohlen zur Schau. Reichtum wird per se als Zeichen von Leistung gedeutet; wer viel verdient, gilt als Leistungsträger, egal, wie er zu seinem Geld gekommen ist. Wenn die Performance eines Unternehmens sinkt, wird dem Topmanager der Lohn nicht gekürzt. Die Unterschichten dagegen werden grösser und verlieren quasi den Anschluss an die Gesellschaft. In Deutschland zählt ein Viertel aller Jobs zum prekären Niedriglohnbereich, im deutschen Parlament sitzt noch ein einziger Arbeiter.

UNI NOVA: Wer «Klasse» sagt, evoziert den Marxismus, aber die Theorien vom Klassenbewusstsein, von der Klasse an sich und für sich, vom Proletariat und so weiter: Sie stimmen nicht.

NACHTWEY: So einfach ist es nicht. Auch für den Soziologen Ralf Dahrendorf, der alles andere als ein Marxist war, sondern ein überzeugter Liberaler, waren kapitalistische Gesellschaften notwendig Klassengesellschaften. Er hat schon in den Neunzigerjahren gesagt, die Bedeutung der Klassen werde wieder zunehmen. Der Begriff Klasse meint, dass die Menschen aufgrund des Umstands, dass sie sich in unterschiedlichen ökonomischen Lagen befinden, verschiedene Interessen haben. Und daraus entstehen zwangsläufig Konflikte: Die Klassen streiten und kämpfen gegeneinander, sie müssen aber auch verhandeln und Lösungen suchen. Im Idealfall entstehen aus dem Streit Integration und Befriedung. Wer die Existenz der Klassengesellschaft leugnet, redet einem scheinbaren Konsens das Wort, der in gesellschaftlicher Anomie enden kann.

UNI NOVA: Anomie: Sie gehen also davon aus, dass die Normen der Gesellschaft erodieren, dass sie vor dem Auseinanderfallen steht?

NACHTWEY: Nicht zwangsläufig. Aber Phänomene wie die deutsche Pegida-Bewegung, die im Internet kursierenden Verschwörungstheorien unter Gleichgesinnten oder auch die anonymen Hasskommentare, die, wie wir wissen, etwa auch von gut ausgebildeten Technikern abgesetzt werden, weisen darauf hin, dass sich soziale Pathologien in beunruhigendem Mass ausbreiten. Viele Menschen fressen Frustration und Ängste in sich hinein, während der Leistungsdruck auf dem Arbeitsmarkt steigt. Die Anzahl Krankheitstage in den Unternehmen sinkt, also die Leute gehen arbeiten, obschon sie nicht wirklich fit sind, gleichzeitig aber nehmen psychosoziale Erkrankungen zu.

UNI NOVA: Wieso wehren sich die Leute nicht, wenn sie unter Druck stehen?

NACHTWEY: Das tun sie, aber auf eine destruktive Weise. Sie melden sich lautstark im Rechtspopulismus zurück. Das ist aus ihrer Sicht eine Art Notwehr …

UNI NOVA: … Notwehr?

NACHTWEY: Weil sie sich nicht mehr angehört fühlen. Die Angehörigen der Unterschichten und der abstiegsbedrohten Mittelschichten haben im öffentlichen Leben an Bedeutung und Sichtbarkeit verloren. Von den etablierten Volksparteien sehen sie sich immer weniger repräsentiert. Die Vereine verschwinden und die Gewerkschaften schwächeln. In diesen zivilgesellschaftlichen Organisationen konnten die Leute früher ihre Wut und Empörung artikulieren und fanden Resonanz. Die Gewerkschaft bot Schutz vor den Zumutungen des Markts, der Stammtisch spendete Trost und empfahl nach dem letzten Bier Mässigung. Die Erosion dieser Milieus führt zur Anomie.

UNI NOVA: Das heisst also, dass früher, als es noch lebendige Vereine und starke Gewerkschaften gab, alles besser war?

NACHTWEY: Es gibt heute zu viele prekäre Jobs, die den Leuten keine Sicherheit mehr bieten, aber ich sehne mich nicht nach den guten alten Zeiten zurück, die es so nie gab. Die Verhältnisse waren auch rückschrittlich, etwa in der Frage der Emanzipation von Frauen. Deshalb kann man die Uhr nicht einfach zurückdrehen. Die Situation ist heute offen, vieles ist möglich. Das Problem ist nicht das Wegfallen der Vereine, sondern: Was tritt an ihre Stelle, welche Formen der Vergemeinschaftung sind sinnvoll? Das Internet, das den sozialen Wandel beschleunigt, kann ein Medium der Emanzipation wie der Regression sein. Global sehe ich im Moment beides: autoritäre und demokratische Tendenzen, den ins Stocken geratenen Arabischen Frühling und die Occupy-Bewegung einerseits, die neuen Autokraten anderseits. Ich glaube, Bernie Sanders hätte anstelle von Hillary Clinton Trump geschlagen. Auf Deutschland bezogen: Es gibt Pegida, aber es gibt auch die «Willkommenskultur», die von rund sechs Millionen Menschen getragen wurde. Deutschland hat die Flüchtlinge aufgenommen und ist nicht zusammengebrochen.

UNI NOVA: Das deutsche Feuilleton bezeichnet Sie als linken Wissenschaftler. Was sagen Sie dazu?

NACHTWEY: Wenn es in der Zeitung steht, wird es wohl stimmen …

UNI NOVA: Was macht ein linker Soziologe?

NACHTWEY: Ich interessiere mich für Arbeit, für soziale Gerechtigkeit, für Wirtschaft und politische Phänomene. Mein Ideal ist, zu wissenschaftlich fundierten Ergebnissen über gesellschaftliche Ungerechtigkeit und sozialen Wandel zu gelangen. Meine Erkenntnisse sollen interessierten Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, die Welt besser zu verstehen und diese vielleicht sogar besser zu machen. Ich steige nicht auf den Feldherrenhügel und sage, wo es langgeht.

UNI NOVA: Nicht wie Lenin also. Und wie arbeitet ein konservativer Soziologe?

NACHTWEY: Eigentlich sollte er zu ähnlichen Resultaten kommen wie der linke Soziologe, aber er wird sie anders interpretieren. Viele konservative Soziologen behaupten, den Gegensatz von Rechts und Links gebe es nicht mehr, oder sie stünden nicht rechts, sondern arbeiteten, wie der grosse Soziologe Max Weber gefordert hat, frei von Werturteilen objektiv. Wer so argumentiert, ist jedoch selbst ideologisch, weil die eigenen Überzeugungen immer in die Forschung mit einfliessen. Linke Soziologinnen und Soziologen analysieren eher die Folgen des sozialen Wandels bezüglich sozialer Gerechtigkeit, Konservative schauen eher darauf, wie die gesellschaftliche Stabilität erhalten werden kann. Linke kritisieren die negativen Folgen des Markts für die Einkommensverteilung, Konservative die – ebenfalls negativen – Auswirkungen auf die traditionelle Familie.

UNI NOVA: In der Schweiz dominiert eine empiristische Soziologie, die mit der Berechnung ihrer kleinteiligen Daten beschäftigt und – anders als Sie – im öffentlichen Diskurs kaum präsent ist. Werden Sie den wissenschaftlichen Streit suchen?

NACHTWEY: Ich streite nicht gern. Zunächst möchte ich meine Kolleginnen und Kollegen besser kennenlernen, deren Arbeit ich schätze. Allerdings würde es einer so vielfältigen Wissenschaft wie der Soziologie guttun, wenn man mehr kollegiale Kontroversen führen würde, um den sozialen Wandel besser zu verstehen. Streiten sollten wir aber in der Gesellschaft. So paradox es klingt: Konflikte fördern die soziale Integration – sofern der Kampf darum nicht, wie dem einflussreichen und mit dem NS-Regime sympathisierenden Staatstheoretiker Carl Schmitt vorschwebte, in der Vernichtung des Gegners enden soll. In der Auseinandersetzung entsteht Reibung, aber auch der Kompromiss und manchmal sogar ein wenig Wärme.

Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist seit 1. August 2017 Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel. Vorher lehrte und forschte er an der Technischen Universität Darmstadt und am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Der Wirtschaftssoziologe befasst sich mit Arbeit, Ungleichheit, Protest und Demokratie. Er schreibt für Tages- und Wochenzeitungen sowie Online-Portale. Seine 2016 bei Suhrkamp erschienene Studie «Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne» stiess auf ein grosses Echo und ist zum Bestseller geworden – eine für ein gehaltvolles Sachbuch seltene Auszeichnung.

Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

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