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Bild und Freiheit (01/2017)

Lesen in Schleifen

Text: Wolf Langewitz

Mein Buch: Medizinprofessor Wolf Langewitz empfiehlt «Phänomenologie der Zeit» des deutschen Philosophen Hermann Schmitz.

Prof. Wolf Langewitz. (Bild: Universität Basel, Andreas Zimmermann)
Prof. Wolf Langewitz. (Bild: Universität Basel, Andreas Zimmermann)

Dieses faszinierende Buch bietet Überlegungen, die ich mir (so) nicht gemacht hätte. Ich lese es in Schleifen, doch mehrmaliges Lesen führt nicht zu Langeweile. Die Themen sind nicht gerade alltäglich: Warum soll mich etwa der Unterschied zwischen einem Attribut und einem Existenz-Inductivum interessieren? Weil ich mich frage, wie viel von mir, dem Mann, der 1971 sein Studium begonnen hat, in jenem steckt, der dies heute schreibt. Die Eigenschaften «vergangen» und «gegenwärtig» können nicht unverwechselbare Eigenschaften meiner Person sein, solche Eigenschaften wären «Attribute», die nur dieser einen Person (oder einer Sache) zukommen. Zeitliche oder örtliche Angaben sind nur Existenz-Inductiva, «die für ihre Identität als diese Sache belanglos sind». Daher kann eine Sache in der Vergangenheit und in der Gegenwart dieselbe sein, «weil Gegenwart und Vergangenheit keine Attribute sind».

Im Beruf war ich von Menschen oft tief beeindruckt, die trotz schlechter Nachrichten, etwa dem Versagen der Chemotherapie bei Krebs, nicht alle Hoffnung fahren liessen, sondern stets aufs Neue hoffen konnten. Berichte von Momenten, in denen Hoffnung enttäuscht wird, sind oft dramatisch («Ich war am Boden zerstört!»), zeugen von einem Verlust des Zeitgefühls («Ich weiss nicht, wie lange ich beim Arzt war») oder markieren den Beginn einer neuen Zeit («Als wir aus der Praxis kamen, hatte sich die Welt verändert»). Es bricht das Neue ein, «(das) die gleitende Dauer des Dahinlebens und Dahinwährens zerreisst und ins Vorbeisein verabschiedet (…). Die Person sinkt dann in ihr Hier und Jetzt ein, die miteinander und mit ihr verschmelzen, und die Wirklichkeit packt den Betroffenen unmittelbar, ohne ihm Spielraum für Differenzierung zu lassen; alles schrumpft zur Eindeutigkeit auf die Spitze des Plötzlichen zusammen.» Unklar bleibt dabei, woher jemand neue Hoffnung schöpft. Hier hilft der Gedanke, dass das plötzlich Andrängende die währende Dauer nicht vollständig zerstören kann, sondern einen Rest unzerrissener Dauer unangetastet lässt. Genau dies meint man, wenn man sagt: «Aber das Leben geht weiter!»

Wolf Langewitz ist emeritierter Medizinprofessor und Lehrbeauftrag­ter für Psychosomatik an der Universität Basel. Seine Interessen gelten neben der Phänomenologie vor allem der Kommunikation mit Patienten und Patientinnen.

Weitere Artikel in der aktuellen Ausgabe von UNI NOVA.

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